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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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fertig, sich ans Boot zu klammern, und es beginnt voll zu laufen. Da packt den Alten das Grauen! Er stößt ihr das Paddel mitten ins Gesicht, haut ihr das linke Auge raus, und endlich lässt sie los und versinkt in den Wellen.«
    »Rüde Sitten.«
    »Aber Talilayuk stirbt nicht, jedenfalls nicht richtig. Sie verwandelt sich in die Meeresgöttin Sedna und herrscht seitdem über die Tiere des Meeres. Einäugig gleitet sie durchs Wasser, die Armstümpfe von sich gestreckt, und sie hat immer noch sehr schönes Haar, das sie ohne Hände leider nicht kämmen kann. Darum ist es oft durcheinander, woran man sieht, dass sie zürnt. – Doch wer es schafft, ihr Haar zu kämmen und zu einem Zopf zu flechten, der kann Sedna besänftigen, und dem gibt sie ihre Meerestiere zur Jagd frei.«
    »Als ich klein war, in den langen Winternächten, ist diese Geschichte oft erzählt worden, immer ein bisschen anders«, sagte Anawak leise.
    »Hat sie dir gefallen?«
    »Es hat mir gefallen, dass du sie erzählt hast.«
    Sie lächelte zufrieden. Anawak fragte sich, was sie auf die Idee gebracht hatte, die alte Legende von Sedna für ihn auszugraben. Ihm schien mehr dahinter zu stecken als ein zufälliger Fund im Internet. Sie hatte nach so etwas gesucht. Es war tatsächlich ein Geschenk an ihn. Ein Beweis ihrer Freundschaft.
    Irgendwie war er gerührt.
    »Blödsinn.« Greywolf pfiff den letzten Delphin heran, der noch nicht mit Kamera und Hydrophonen ausgestattet war. »Leon ist ein Mann der Wissenschaft. Dem kannst du mit Meeresgöttinnen nicht kommen.«
    »Euer dämlicher Kleinkrieg«, sagte Delaware kopfschüttelnd.
    »Außerdem stimmt die Geschichte nicht. Wollt ihr wissen, wie wirklich alles entstanden ist? Es gab kein Land. Es gab nur einen Häuptling,der unter Wasser eine Hütte bewohnte. Er war ein fauler Sack, weil er niemals aufstand, sondern immer nur mit dem Rücken zum Feuer lag, in dem irgendwelche Kristalle verbrannten. Er lebte ganz alleine da unten, und sein Name war ›Der Wunderbare Macher‹. Eines Tages kam sein Gehilfe hereingeplatzt und meinte, die Geister und übernatürlichen Wesen fänden kein Land, um sich darauf niederzulassen, und er solle seinem Namen gerecht werden und was dagegen machen. Als Antwort hob der Häuptling zwei Steine vom Boden und gab seinem Gehilfen beide mit der Anweisung, er solle sie ins Wasser werfen. Der tat, wie ihm geheißen, und die Steine wuchsen und formten die Queen Charlotte Islands und das ganze Festland.«
    »Danke«, grinste Anawak. »Endlich mal eine streng wissenschaftliche Erklärung.«
    »Die Erzählung stammt aus einem alten Haida-Zyklus: Hoyá Káganas, die Reisen des Raben«, sagte Greywolf. »Bei den Nootka gibt es ähnliche Geschichten. Viele drehen sich um das Meer. Entweder du entstammst ihm, oder es vernichtet dich.«
    »Vielleicht sollten wir besser hinhören«, meinte Delaware. »Falls wir mit der Wissenschaft nicht weiterkommen.«
    »Seit wann interessierst du dich für Mythen?«, wunderte sich Anawak.
    »Es macht Spaß.«
    »Du bist doch noch empirischer als ich.«
    »Na und? Jedenfalls sagen die Mythen ziemlich klar, wie man friedlich mit der Natur zusammenlebt. Wen interessiert's, ob ein Wort davon wahr ist? Du nimmst was und gibst was zurück. Das ist die ganze Wahrheit.«
    Greywolf grinste und tätschelte den Delphin. »Dann hätten wir die Probleme ja im Griff, was, Licia? Du musst einfach ein bisschen mehr Körpereinsatz zeigen.«
    »Wieso denn das?«
    »Ich kenne zufällig ein paar alte Bräuche aus der Beringsee. Die haben es wie folgt gemacht: Bevor die Jäger in See stachen, musste der Harpunenwerfer mit der Tochter des Kapitäns schlafen, um ihren Vaginalgeruch anzunehmen. Nur der zog den Wal in die Nähe des Boots und besänftigte ihn, sodass er sich töten ließ.«
    »Auf so was können wirklich nur Männer kommen«, sagte Delaware.
    »Männer, Frauen, Wale ...«, lachte Greywolf. »Hishuk ish ts'awalk - Alles ist eins.«
    »Okay«, rief Delaware. »Tauchen wir zum Meeresgrund, suchen Sedna und kämmen ihre Haare.«
    Alles ist eins, echote es in Anawaks Kopf.
    Akesuk hatte gesagt: Dieses Problem könnt ihr nicht mit Wissenschaft lösen. Ein Schamane würde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgöttin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts

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