Der Schwarm
richtiger Inuk ist, sondern ein Angeber. Er kann überhaupt kein Inuk sein. Sonst wäre er längst ...«
»Okay, okay!« Anawak hob die Hände. »Wo ist der verdammte Anzug?«
Fünf Minuten später half er Delaware und Greywolf, den Tieren der zweiten Staffel die Kameras und Sender anzulegen. Plötzlich fiel ihm ein, wie Delaware ihn gefragt hatte, ob er ein Makah sei.
»Wie bist du damals eigentlich darauf gekommen?«, wollte er wissen.
Sie zuckte die Achseln. »Du hast dich ausgeschwiegen. Irgendwas Indianisches musstest du sein. Wie ein Friese hast du jedenfalls nicht ausgesehen. Jetzt, wo ich's besser weiß ...« Sie strahlte ihn an. » ... hab ich auch was für dich!«
»Du hast was für mich?«
Sie zurrte einen Riemen um die Brust eines Delphins.
»Ich bin im Internet darauf gestoßen. Dachte, ich mache dir eine Freude. Hab's auswendig gelernt, willst du wissen, was es ist?«
»Raus damit!«
»Die Geschichte deiner Welt!« Es klang wie von Fanfarenstößen begleitet.
»Du lieber Himmel.«
»Kein Interesse?«
»Doch«, sagte Greywolf. »Leon interessiert sich brennend für seinegeliebte Heimat, er würde es nur ums Verrecken nicht zugeben.« Er kam herbeigeschwommen, flankiert von zwei Delphinen. In seinem gepolsterten Anzug sah er aus wie ein mittelgroßes Seeungeheuer. »Lieber lässt er sich für einen Makah halten.«
»Du hast's gerade nötig«, bemerkte Anawak.
»Kein Streit, Kinder!« Delaware legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. »Ich meine, wusstet ihr, wo all die Wale und Delphine und die Robben herkommen? Wollt ihr die wahre Erklärung hören?«
»Spann uns nicht auf die Folter.«
»Also, es beginnt in frühester Zeit, als Menschen und Tiere noch eins waren. Da lebte in der Nähe von Arviat ein Mädchen.«
Anawak horchte auf. Das also hatte sie gefunden! Als Heranwachsender hatte er die Geschichte in allen möglichen Varianten gehört, aber dann war sie ihm zusammen mit seiner Kindheit verloren gegangen.
»Wo ist Arviat?«, wollte Greywolf wissen.
»Arviat ist die südlichste Siedlung von Nunavut«, erwiderte Anawak. »War der Name des Mädchens Talilayuk?«
»Oh ja, sie hieß Talilayuk, so hieß sie«, fuhr Delaware mit einigem Pathos fort. »Sie hatte schönes Haar, und viele Männer zeigten großes Interesse an Talilayuk, aber erst ein Hundemann konnte ihr Herz gewinnen. Talilayuk wurde schwanger und gebar Inuit und Nicht-Inuit, alles durcheinander. Bis eines Tages, als der Hundemann gerade Fleisch holen war, ein unglaublich gut aussehender Sturmvogelmann in einem Kajak vor Talilayuks Camp erschien. Er lud sie ein, zu ihm ins Boot zu steigen, und wie das so geht – sie brannten miteinander durch.«
»Das Übliche.« Greywolf inspizierte das Objektiv einer Kamera. »Und wann kommen die Wale ins Spiel?«
»Langsam. – Irgendwann erscheint Talilayuks Vater auf Besuch, aber seine Tochter ist verschwunden, und der Hundemann heult rum. Der Alte rudert auf dem Meer umher, bis er zum Camp des Sturmvogelmannes kommt. Da sieht er sie schon von weitem vor dem Zelt sitzen und macht ein Riesentheater, sie solle sich auf der Stelle nach Hause scheren. Talilayuk steigt folgsam zu Papa ins Boot, und sie paddeln heimwärts. Nach einiger Zeit bemerken sie plötzlich, wie das Meer zu wogen beginnt. Die Wellen werden immer höher, und plötzlich bricht ein gewaltiger Sturm los! Weit und breit kein Land in Sicht. Brecher schlagen ins Boot, und der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, sie könnten sinken. Es ist die Rache des Sturmvogels, die über sie gekommen ist, und Papa denkt, deswegen will ich nicht ersaufen. Und weil er ohnehin einen Rochus hat auf seine Tochter, die an dem ganzenSchlamassel schuld ist, packt er Talilayuk und stürzt sie über Bord. Das Mädchen klammert sich verzweifelt an den Bootsrand. Der Alte schreit, lass los, aber Talilayuk klammert sich nur noch fester an die Reling. Da packt ihn der Wahnsinn, er greift zum Beil, holt aus und schlägt ihr die vorderen Fingerglieder ab! Aber kaum berühren die das Wasser, was glaubst du? Sie verwandeln sich in Narwale und die Fingernägel in Narwalstoßzähne. Talilayuk will nicht loslassen, also haut der Alte ihr auch noch die mittleren Fingerglieder ab, und sie werden zu Weißwalen, zu Belugas. Immer noch hängt das Mädchen an der Reling. Die letzten Fingerglieder müssen dran glauben, und es entstehen lauter Robben daraus. Talilayuk gibt nicht auf. Selbst mit ihren Handstümpfen bringt sie es irgendwie noch
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