Der Schwarm
Menschengestalt. Wahrscheinlich trage ich Scheuklappen, aber ich sehe überall nur Mikroorganismen. Wir leben im Zeitalter der Bakterien. Seit über drei Milliarden Jahren behalten sie ihre Form unverändert bei. Menschen sind eine Modeerscheinung, aber wenn die Sonne explodiert, wird es immer noch irgendwo ein paar Mikroben geben. Sie sind das wahre Erfolgsmodell des Planeten, nicht wir. Ich weiß nicht, ob Menschen Vorteile gegenüber Bakterien haben, aber wenn wir jetzt noch den Beweis erbringen, dass Mikroben Intelligenz besitzen, stecken wir meines Erachtens ganz tief in der Scheiße.«
Johanson nippte an seinem Glas.
»Ja, es wäre fatal. Alleine, was die christlichen Kirchen ihren Gläubigen zu erklären hätten. Dass Gottes Schöpfung ihren Höhepunkt am fünften Tag hatte und nicht am siebten.«
»Darf ich Sie was Persönliches fragen?«
»Sicher.«
»Wie kommen Sie eigentlich mit alldem hier klar?«
»Solange es ein paar seltene Bordeaux gibt, sehe ich keine nennenswerten Schwierigkeiten.«
»Empfinden Sie keine Wut?«
»Auf wen?«
»Auf die da unten.«
»Sollten wir dieses Problem mit Wut lösen?«
»Keineswegs, o Sokrates!« Oliviera grinste schief. »Es interessiert mich wirklich. Ich meine, die haben Ihnen Ihr Zuhause genommen.«
»Ja. Einen Teil davon.«
»Vermissen Sie es nicht schrecklich? Ihr Haus in Trondheim.«
Johanson schwenkte den Inhalt seines Glases.
»Weniger, als ich dachte«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Sicher, es war ein wunderschönes Haus, voller wunderbarer Sachen -aber es enthielt nicht mein Leben. Man ist verblüfft, wie leicht man sich von so einem Weinkeller lösen kann und von einer gut sortierten Bibliothek. Außerdem, so merkwürdig es klingt, ich hatte beizeiten losgelassen. Am Tag, als ich auf die Shetlands flog, muss ich mich wohl von meinem Haus verabschiedet haben, irgendwie, ohne es zu merken. Ich hab die Türe geschlossen und bin weggefahren, und in meinem Kopfwar ebenfalls etwas abgeschlossen. Ich dachte, wenn du jetzt sterben müsstest, was würdest du am meisten vermissen? – Und es war nicht das Haus. Nicht dieses.«
»Gibt es noch eines?«
»Ja.« Johanson trank. »An einem See im Hinterland. Wenn man dort auf der Veranda sitzt und aufs Wasser schaut, Sibelius oder Brahms im Ohr, ein Schluck von diesem Zeug hier ... das ist ganz was anderes. Diesen Platz vermisse ich wirklich.«
»Klingt schön.«
»Wissen Sie, warum ich das alles hier heil überstehen möchte? Um dorthin zurückzukehren.« Johanson griff nach der Flasche und füllte ihre Gläser auf. »Sie müssen dort gewesen sein und den Abendstern gesehen haben, wie er sich im Wasser spiegelt. Das vergessen Sie nicht. Ihre ganze Existenz bündelt sich in diesem einsamen Funkeln. Das Universum wird nach beiden Seiten durchlässig. – Eine außerordentliche Erfahrung, aber man kann sie nur alleine machen.«
»Sind Sie nochmal dort gewesen nach der Welle?«
»Nur in der Erinnerung.«
Oliviera trank.
»Ich hatte Glück bis jetzt«, sagte sie. »Keine Verluste zu beklagen. Freunde und Familie wohlauf, alles steht noch.« Sie hielt inne und lächelte. »Dafür hab ich kein Haus am See.«
»Jeder hat ein Haus am See.«
Es schien ihr, als wolle Johanson noch etwas hinzufügen. Stattdessen ließ er einfach nur den Wein in seinem Glas kreisen. So saßen sie da, tranken Bordeaux und sahen zu, wie der Dunst übers Meer zog.
»Ich habe eine Freundin verloren«, sagte Johanson schließlich.
Oliviera schwieg.
»Sie war ein bisschen kompliziert. Hat alles im Laufschritt gemacht.« Er lächelte. »Komisch, eigentlich haben wir uns erst so richtig gefunden, nachdem wir einander aufgegeben hatten. Na ja. Lauf der Dinge.«
»Das tut mir Leid«, sagte Oliviera leise.
Johanson nickte. Er sah sie an und dann an ihr vorbei. Sein Blick bekam etwas Starres. Oliviera runzelte die Stirn und wandte den Kopf.
»Ist irgendwas?«
»Ich hab Rubin da gesehen.«
»Wo?«
»Da drüben.« Johanson zeigte zur mittschiffs gelegenen Wand des Hangars. »Er ist da reingegangen.«
»Reingegangen? Da ist nichts, wo man reingehen könnte.«
Das Ende der Halle lag in düsterem Zwielicht. Eine mehrere Meter hohe Wand schottete den Hangar zu den dahinter liegenden Decks ab. Oliviera hatte Recht. Nirgendwo dort gab es eine Tür.
»Ist vielleicht was in dem Wein?«, frotzelte sie.
Johanson schüttelte den Kopf. »Ich könnte schwören, dass es Rubin war. Er tauchte kurz auf und war verschwunden.«
»Da sind
Weitere Kostenlose Bücher