Der Schwarm
Im Zeitraffer zitterten ihre Hinterleiber.Plötzlich waren sie verschwunden. Nur die Löcher blieben als dunkle Flecken im Eis.
Kein Grund zur Beunruhigung, dachte er. Auch andere Würmer bohren. Sie bohren gerne. Manche bohren Schiffe in Grund und Boden.
Aber warum bohren sie Hydrate an?
»Wo sind die Tiere jetzt?«, fragte er.
Sahling sah auf den Monitor.
»Sie sind tot.«
»Tot?«
»Verreckt. Sie sind erstickt. Würmer brauchen Sauerstoff.«
»Ich weiß. Es ist der Sinn der ganzen Symbiose. Die Bakterien ernähren den Wurm, und der Wurm versorgt sie durch sein Strudeln mit Sauerstoff. Aber was ist hier geschehen?«
»Hier ist geschehen, dass die Würmer sich in ihren eigenen Tod gebohrt haben. Sie haben Löcher ins Eis gefressen, als sei es der süße Brei, bis sie in der Gasblase landeten, wo sie erstickten.«
»Kamikaze«, murmelte Johanson.
»Es kommt einem in der Tat wie Selbstmord vor.«
Johanson überlegte.
»Oder aber sie werden von irgendetwas fehlgeleitet.«
»Möglich. Aber von was? Im Innern der Hydrate ist nichts, was ein solches Verhalten auslösen könnte.«
»Vielleicht das freie Gas darunter?«
Bohrmann rieb sich das Kinn.
»Daran dachten wir auch schon. Aber das erklärt immer noch nicht, warum sie Selbstmord begehen.«
Johanson sah vor seinem geistigen Auge das Gewimmel auf dem Meeresgrund. Sein Unbehagen wuchs. Wenn sich Millionen Würmer ins Eis bohrten, was wären die Folgen?
Bohrmann schien seine Gedanken zu erraten.
»Die Tiere können das Eis nicht destabilisieren«, sagte er. »Im Meer sind die Hydratfelder ungleich dicker als hier. Diese verrückten Viecher kratzen allenfalls die Oberfläche an, maximal ein Zehntel der Eisschicht. Dann gehen sie unweigerlich ein.«
»Was nun? Werden Sie weitere Würmer testen?«
»Ja. Wir haben noch ein paar. Vielleicht nutzen wir auch die Gelegenheit, uns vor Ort umzusehen. Ich denke, Statoil wird das begrüßen. Die Sonne soll in den nächsten Wochen hoch nach Grönland fahren. Wir könnten den Start der Expedition vorziehen und der Stelle einen Besuch abstatten, wo Sie die Polychäten gefunden haben.« Bohrmannhob die Hände. »Aber diese Entscheidung treffe nicht ich. Das müssen andere bestimmen. Heiko und ich hatten einfach spontan die Idee.«
Johanson sah über die Schulter zu dem riesigen Tank. Er dachte an die toten Würmer im Innern.
»Die Idee ist gut«, sagte er.
Später fuhr Johanson in sein Hotel, um sich umzuziehen. Er versuchte Lund zu erreichen, aber sie ging nicht ran. Vor seinem geistigen Auge sah er sie in Kare Sverdrups Armen liegen, zuckte die Achseln und legte auf.
Bohrmann hatte ihn zum Abendessen in ein Bistro eingeladen, das zu den angesagten Adressen Kiels gehörte. Johanson ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er fand, sein Bart müsse gestutzt werden. Mindestens zwei Millimeter zu lang. Alles andere stimmte. Das immer noch volle Haar, ehemals dunkel und nun zunehmend durchsetzt von grauen Strähnen, fiel üppig nach hinten. Unter den breiten, schwarzen Brauen funkelte der Blick wie eh und je. Mitunter gab es Situationen, da verliebte er sich in sein eigenes Charisma. Dann wieder erkannte er den Charismatiker nicht wieder, besonders in den frühen Morgenstunden. Bis jetzt hatten ein paar Tassen Tee und ein bisschen kosmetische Pflege immer noch ausgereicht, das schnell wieder in Ordnung zu bringen. Eine Studentin hatte ihn unlängst mit dem deutschen Schauspieler Maximilian Schell verglichen, und Johanson hatte sich geschmeichelt gefühlt, bis ihm bewusst wurde, dass Schell über siebzig war. Danach war er auf eine andere Hautcreme umgestiegen.
Er durchstöberte seinen Koffer, wählte einen Pulli mit Reißverschluss, zwängte das Jackett seines Anzugs darüber und wickelte einen Schal um seinen Hals. Gut angezogen war er so nicht, und genau so liebte er es: nicht gut angezogen zu sein. Zu keiner Zeit passte wirklich zusammen, was er trug. Er kultivierte seine Schlampigkeit und genoss es, sich nicht mit Mode abplagen zu müssen. Nur in Momenten großer Einsicht war er bereit zuzugeben, dass sein angegammeltes Outfit eine Mode für sich darstellte, der er ebenso anhing wie andere Menschen dem Diktat der Haute Couture, und dass er mehr Zeit auf den Zustand des Ungekämmtseins verwendete als das Gros der Menschheit auf eine geordnete Frisur.
Er bleckte sein Spiegelbild an, verließ das Hotel und ließ sich mit dem Taxi zu seiner Verabredung fahren.
Bohrmann erwartete ihn. Eine Zeit lang
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