Der Schwur
Terrassentür etwas spiegelte. Etwas Großes, Dunkles, das trotzdem zu leuchten schien, als es sich aufbäumte und durch das hohe Gras trabte. Sie vergaß ihr Taschentuch, wischte sich die Tränen mit der Hand ab und starrte die Spiegelung an, dann drehte sie sich hastig um.
Da war nichts. Nur ein paar Zweige am Waldrand schaukelten heftig, als sei dort etwas zwischen ihnen hindurchgelaufen.
Sonjas Herz klopfte bis zum Hals. Ein Pferd! Es konnte nur Bjarni oder Micky gewesen sein – aber die waren doch viel kleiner, und keiner von ihnen würde sich je aufbäumen. »Micky!«, rief sie trotzdem und lief ein paar Schritte vorwärts. »Bjarni! Kommt zurück! Micky!«
Alles blieb still wie zuvor. Unwillkürlich schaute sie wieder zur Terrassentür hin – und da stand es in der Spiegelung am Waldrand: groß, dunkel, mit schimmernder heller Mähne und wehendem Schweif.
Langsam drehte sie sich um.
Jetzt sah sie das Pferd deutlicher – aber es sah ganz anders aus als in dem Spiegelbild. Es war nicht schwarz oder dunkelbraun, sondern von einem hässlichen schmutzigen Grau. Und es sah schlimmer aus als Bjarni und Micky inihren schlechtesten Zeiten: bis auf die Knochen abgemagert, mit Striemen auf dem Fell, einer sehr spärlichen Mähne und einem Schweif, der wie eine Flaschenbürste aussah. Mit gesenktem Kopf stand es da; das Maul streifte ein paar Grashalme, aber es fraß nicht.
Als Sonja einen Schritt auf das Pferd zuging, warf es schnaubend den Kopf hoch und humpelte in den Wald zurück.
Sie wollte ihm folgen, aber dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Fast sechs! Sie hatte den ganzen Nachmittag hier zugebracht und nun kam sie zu spät nach Hause!
»Ich komme wieder!«, rief sie und wusste selbst nicht, warum sie das tat. Welchen Sinn hatte es, noch einmal zum Waldhof zu kommen? Ihre Mutter würde ihr ohnehin verbieten, allein in den Wald zu gehen. Aber sie wusste genau, dass kein Verbot sie davon abhalten konnte, dieses streunende Pferd zu suchen. Es war krank und verletzt und brauchte Hilfe. Und wenn sie schon Micky und Bjarni nicht mehr helfen konnte, dann doch wenigstens dem fremden Grauen.
Sie lief um das verlassene Haus herum zurück zum Stall, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte nach Hause.
»Melanie hat angerufen«, sagte ihre Mutter statt einer Begrüßung. »Du hast sie offenbar im Schwimmbad im Stich gelassen und bist allein zum Waldhof gefahren. Habe ich dir nicht hundertmal gesagt, dass du nicht allein in den Wald darfst? Und wie siehst du überhaupt aus? Warum kommst du so spät?« Sie wartete gar nicht ab, ob Sonja antwortete oder nicht. »Geh und wasch dich! Und wirf die Sachen in die Wäsche – du stinkst nach Pferdemist!«
Sonja versuchte erst gar nicht, es ihr zu erklären. Sie ging ins Badezimmer, zog die dreckigen Kleider aus und warf sie in den Wäschekorb. Als sie in die Dusche ging und Schweiß, Dreck und Pferdegeruch von sich abwusch, fühlte sie sich wie eine Verräterin. Nichts blieb von Micky und Bjarni übrig, nicht einmal der Geruch.
Die restliche Familie hatte schon gegessen. Sonjas ältere Geschwister Corinna und Philipp waren ins Kino gegangen, und Paul, der jüngere Bruder, hockte in seinem Zimmer und entwickelte vermutlich wieder Stinkbomben oder ähnliche Scheußlichkeiten aus dem Chemiebaukasten. Die Eltern hatten ausnahmsweise einmal gleichzeitig keinen Nachtdienst. Sie saßen im Wohnzimmer und redeten über die Patienten, über Beruhigungsmittel und Körperpflege. Sonja hörte schon lange nicht mehr zu, wenn sie das taten. Und heute interessierte es sie erst recht nicht. Sie dachte darüber nach, wie sehr dieser Tag ihr Leben verändert hatte ... und dass sie mit niemandem darüber reden konnte.
Sie aß zwei Brote mit Schinken und ging dann in ihr Zimmer. Normalerweise hätte sie jetzt sofort Melanie angerufen und ihr von Micky, Bjarni und dem seltsamen grauen Pferd erzählt. Aber das kam nicht mehr infrage. Sie würde warten, bis Melanie von sich aus noch einmal anrief. Nachlaufen würde sie ihr jedenfalls nicht – die Abfuhr im Schwimmbad war deutlich gewesen.
Weil das Nachdenken über Melanie und die Ponys nirgendwohin führte, dachte sie über das graue Pferd nach. Woher kam es? Warum sah es so schrecklich krank und verwahrlost aus? Es gab im näheren Umkreis keinen Reiterhof und die Bauern in der Gegend hielten keine Pferde. Es musste irgendwo ausgebrochen sein. Sie holte die Tageszeitung aus dem Wohnzimmer und las die regionalen
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