Der Schwur
dicken, blutigen Peitschenstriemen über Schultern und Flanken des Tieres. Und die eitrige, entzündete Verletzung am linken Vorderbein. Der Hals war zu dünn, der Kopf klobig und schwer, und irgendwie sah das ganze Tier ... falsch aus. Für ein Pony war es zu groß und für ein Pferd zu klein, und überhaupt glich es keiner einzigen Rasse, die Sonja je in ihren Büchern gefunden hatte.
Aber während Sonja dastand und das Pferd anstarrte, geschah etwas Sonderbares. Sie wusste plötzlich, wie es sich anfühlte, das struppige Fell zu streicheln. Sie wusste, dass dieses Pferd es liebte, an der Stirn gekrault zu werden, und dass es an der linken Flanke kitzlig war. Sie wusste auch, wie es sich anfühlte, es zu reiten, und dass es den armen alten Micky mit seinen stämmigen Ponybeinen kilometerweit hinter sich lassen würde. Sie kannte dieses Pferd –und es kannte sie. Es blieb reglos stehen, als sie langsam näher kam; dann senkte es den Kopf und wieherte leise, halb schnaubend. Und Sonja verstand dieses Wiehern, als seien es Worte gewesen.
Endlich bist du da.
Sie hatte es fast erreicht, als plötzlich der Hund wieder bellte – ganz in der Nähe. Das Pferd riss den Kopf hoch und scheute, und dann lief es fort, in einem humpelnden, stolpernden Trab, der zu deutlich verriet, wie sehr sein Bein schmerzte. Es verschwand zwischen den Tannen und gleich darauf jagte der Hund über den Weg und hinter ihm her. Es war ein großer Mischling, eine Kreuzung zwischen Schäferhund und Jagdhund, und er kümmerte sich weder um Sonja noch um die Rufe und Pfiffe seines Besitzers, der auf dem Hauptweg stehen geblieben war.
Sonja wurde es heiß und kalt zugleich. Normalerweise hatte sie Angst vor Hunden, aber dieser Köter jagte ihr Pferd! Ohne sich zu besinnen, rannte sie hinterher – gerade rechtzeitig, um ein schmerzliches Aufheulen zu hören. Das Pferd wieherte, es klang scharf und triumphierend. Dann kam der Hund wieder in Sicht. Er humpelte jetzt ebenso stark wie seine »Beute«; der ganze linke Vorderlauf war wie von etwas Scharfem aufgerissen. Ohne Sonja zu beachten, hinkte er winselnd zu seinem Herrn zurück.
Sonja schaute in die Richtung, in der das Pferd verschwunden war, und sah etwas, das sie nie vergessen würde: einen großen Schatten aus Schwarz und Silber, der wie schwerelos zwischen den Bäumen davontrabte. Nicht eine Spur von Lahmheit war an ihm und auf seiner schwarzen Stirn leuchtete ein silbernes Licht.
E
in schlimmer Tag
An diesem Samstag wachte Melanie mit einem schlechten Gewissen auf. Sie wusste genau, wie schäbig sie sich Sonja gegenüber verhalten hatte. Aber wie hätte sie Sonja erklären sollen, dass sie Annika und Nele schon in der Schule versprochen hatte, sie zum Eis einzuladen? Dafür war fast ihr ganzes Taschengeld draufgegangen, denn natürlich war die Angelegenheit nicht mit zwei Bällchen Vanilleeis erledigt gewesen. Nein, Spaghettieis und ein Erdbeerbecher mussten es sein. Für Melanie selbst war gerade mal eine Zitronenwaffel übrig geblieben. Aber dafür waren Annika und Nele unheimlich nett gewesen. Es war einfach zu verlockend, mal nicht die Außenseiterin zu sein. Mit Sonja hatte sie da keine Chance.
Aber trotzdem hatte die Freundin ihr gefehlt, und da sie Sonja gestern nicht erreicht hatte, rief sie heute eben noch mal an.
»Philipp Berger« meldete sich eine Stimme am Telefon und Melanie hätte am liebsten gleich wieder aufgelegt. Vor Sonjas großem Bruder hatte sie ein wenig Angst – immer wenn sie ihn traf, war er kühl, spöttisch und herablassend. Dabei erzählte Sonja immer, wie nett er sei. Melanie fand das nicht. Sie fand nur, dass er gut aussah. Aber nett? Nie im Leben.
»Hallo«, sagte sie nervös. »Hier ist Melanie. Kann ich – ist Sonja da?«
»Sonja?«, wiederholte Philipp gedehnt, als hätte er nochnie etwas von einer Person namens Sonja gehört. Dann schien er sich zu »erinnern«. »Ach ja. Die ist zum Waldhof gefahren. Vermutlich mit ihrer Freundin Melanie.«
»Was?«, fragte sie verblüfft. »Aber Melanie bin doch ich!«
»Dann seid ihr schon zusammen unterwegs. Sonja fährt nicht allein in den Wald.«
Mit dieser Logik war Melanie überfordert. »Aber –«
»Sag ihr schöne Grüße von mir.« Er legte auf und Melanie blieb verwirrt und wütend zurück – wie immer. Obwohl sie gar nicht so genau wusste, worüber sie sich eigentlich ärgerte. Dieser arrogante Blödmann!
Dann schob sie die Gedanken über Philipp beiseite und dachte an Sonja. War sie wirklich
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