Der Seele weißes Blut
dass es kein Ehrenmord gewesen sein könnte, gefällt dir nicht?«, fuhr Meier ihn an. »Was ist das denn für eine rassistische Scheiße?«
»Mensch Reinhold, komm runter«, sagte Schmiedel ärgerlich. »Lass den Mann doch erst mal ausreden! Mach zehn Liegestützen, und dann setz dich wieder zu uns.«
Meier hob die Hände. »Schon okay. Einwand zurückgezogen. Trotzdem kapier ich nicht, was du meinst, Chris.«
Salomon trommelte wieder mit dem Kuli auf den Tisch. »Ein Ehrenmord ist eine Einzeltat. Schrecklich und unentschuldbar, keine Frage. Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, was in den Köpfen von solchen Typen vorgeht. Aber wenn das hier etwas anderes ist …« Er machte eine Pause, drehte den Kuli hin und her, während Meier unruhig zuckte. »Dann könnte es der Anfang von etwas viel Schlimmerem sein.« Er ließ die Worte sacken, bevor er noch eins draufsetzte. »Rituelle Steinigung. Sorgsam ausgesuchter Tatort. Geheimnisvolle Zeichen am Baum. Das riecht nach einem astreinen Serienkiller.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Eine Thermoskanne, die die »Soko Pumps« zurückgelassen hatte, zischte ungehalten, unter dem Fenster ratterte die Straßenbahn vorbei.
»Eigentlich hätte ich so eine Horrorvision von unserem Bücherwurm erwartet«, sagte Meier schließlich und warf dabei einen Blick auf Schmiedel. »Der hat manchmal zu viel Phantasie. Aus deinem Mund, Chris, klingt sie verdammt real.«
Schmiedel knüllte ein Blatt zusammen und warf es nach Meier. »Ich Bücherwurm – du Analphabet«, grummelte er, doch sein Gesicht blieb ernst.
Lydia sah zu Sebastian Mörike hinüber, der mit einem Bleistift in seinem Notizblock herumkritzelte. »Du hast noch gar nichts gesagt, Mörike. Was meinst du zu alldem?«
Mörikes Kopf schoss hoch. Seine Jungenbäckchen färbten sich feuerrot. »Ich weiß nicht«, stotterte er. »Ich finde, es ist noch zu früh, um etwas sagen zu können.«
»Eine sehr kluge Ansicht«, antwortete Lydia, und Mörike wurde noch eine Spur roter. »Solange wir noch so wenig wissen, sollten wir uns mit Theorien zurückhalten. Lasst uns lieber Fakten sammeln. Schmiedel und Meier, ihr kümmert euch um mögliche Zeugen, organisiert die Befragung der Anwohner. Vielleicht gibt es ja weitere Jogger oder Hundebesitzer, die heute früh unterwegs waren und irgendetwas gesehen haben. Salomon, du sorgst bitte dafür, dass eine Beschreibung der unbekannten Toten an die Presse geht. Mit einem Foto können wir ja leider nicht dienen.« Sie seufzte. »Köster, du beschäftigst dich mit den Vermisstenmeldungen. Und ich fahre mit Mörike in die Rechtsmedizin.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Halb eins. Um siebzehn Uhr treffen wir uns wieder hier. Hoffentlich wissen wir bis dahin mehr. Und jetzt an die Arbeit, Jungs.«
Die Männer erhoben sich und verließen nacheinander den Raum. Schmiedel und Meier wollten sich erst in der Kantine im Erdgeschoss stärken, bevor sie sich an die Befragung der Anwohner machten, eine mühsame und zeitraubende Laufarbeit, um die sich niemand riss. Köster trottete in sein Büro. Salomon blieb an der Tür stehen, Lydia spürte, dass er sie abschätzend ansah. Sie ahnte, was er dachte. Eigentlich hätte er als ihr Partner mit in die Rechtsmedizin fahren sollen. Sie hatte ihn mit einer Anfängerarbeit bedacht. Ein bisschen Internetrecherche und eine Personenbeschreibung für die Presse. Das hatte er in zwanzig Minuten erledigt. Es war eine Machtdemonstration, eine Kampfansage, und beide wussten es.
Sie reckte das Kinn vor und fixierte ihn. »Gibt es noch etwas, Salomon?«
Er schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick zu dem Greenhorn wanderte. »Schon mal bei einer Obduktion dabei gewesen?«
Mörike zuckte mit den Schultern. »Noch nicht so richtig«, gab er zu. »Aber ich habe schon jede Menge Leichen gesehen.«
»Es ist was anderes, wenn sie vor deiner Nase aufgeschnippelt und zersägt werden.« Chris klopfte ihm auf die Schulter. »Also, halt die Ohren steif.«
Er marschierte aus dem Besprechungsraum, ohne Lydia noch einmal anzusehen, und sie starrte ihm wütend hinterher.
5
Philipp Dankert hörte das Geschrei bereits, als er den Wagen in die Einfahrt vor seinem Haus lenkte. Am liebsten hätte er zurückgesetzt und wäre gleich wieder weggefahren. Zu dem kleinen Italiener unten in Gerresheim, in aller Ruhe Pasta essen, ein Glas Wein trinken und die Stille genießen. Er fragte sich, warum Ellen die Kinder nicht im Griff hatte. Es konnte
Weitere Kostenlose Bücher