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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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nicht in den Kindergarten. Nicht zu den anderen Jungen, die so laut und wild sind und ihn dauernd ärgern. Sie treten ihn beim Basteln heimlich unter dem Tisch. Manchmal sind seine Beine ganz blau. Und wenn er aufs Klo muss, stellen sie sich in die Tür und machen Witze über seinen nackten Po.
    »Ich bin krank«, sagt er lahm, und Kerstin lacht.
    »Du lügst. Du hast keine Lust, in der Kindergarten zu gehen.«
    »Ich will hierbleiben.«
    »Du bist schön brav und gehst. So wie die anderen Kinder auch.«
    Sie zieht ihm die Schuhe an. Im Kindergarten muss er das selbst tun, und er kommt immer durcheinander, weiß nie, an welchen Fuß welcher Schuh muss. Manche Kinder können sogar die Schleife allein binden. Er hat es einmal versucht, und Mama hat furchtbar geschimpft, weil er die Bänder so verknotet hat, dass sie sie kaum wieder aufbekam.
    Die Tür zum Kindergarten ist ein gähnendes dunkles Loch. Kerstin schubst ihn hinein. Fräulein Markus nimmt ihn in Empfang. Eigentlich ist Fräulein Markus nett. Wenn die anderen Kinder nicht wären, wäre es sogar richtig schön hier. Manchmal träumt er davon. Nur er und Fräulein Markus und ein leerer Kindergarten. Er hätte die Schaukel für sich allein, könnte in der Bauecke einen hohen Turm bauen, den niemand umstößt. Und er könnte aufs Klo gehen, ohne Angst zu haben.
    Fräulein Markus setzt ihn zu Dennis und Tobias an den Maltisch, und er weiß, dass ihm ein schlimmer Tag bevorsteht.

7

    Mittwoch, 9. September
    Als Lydia die Tür zu ihrem Büro im zweiten Stock des Düsseldorfer Polizeipräsidiums aufstieß, saß der Schönling an Deckers Schreibtisch und blätterte in einer Akte. Sie hätte ihn am liebsten vom Stuhl gezerrt und vor die Tür gejagt. Er gehörte nicht hierher. Nicht in ihr Büro. Nicht in ihr Leben.
    Auf der anderen Seite musste sie sich eingestehen, dass er den Platz aufwertete. Optisch betrachtet. Er sah aus wie eine Figur aus einem Werbespot für Zigaretten oder Aftershave. Geradewegs von der Kinoleinwand herabgestiegen in die triste Realität. Perfekt sitzende Designerjeans, Hemd, Lederjacke. Das Kinn eine Spur unrasiert und das Haar leicht zerzaust, sodass er jene mühsam gezähmte Männlichkeit ausstrahlte, die angeblich bei Frauen so gut ankam. Nicht ganz Paul Newman. Eher eine verwegene Variante des Kinostars. Warum war so einer Bulle? Der gehörte in eine andere Welt. Und vor allem nicht auf Deckers Platz. Es war, als würde er ihn besudeln.
    Sie riss sich zusammen. »Morgen.«
    Er schaute auf. »Oh, guten Morgen, Louis.« Einen Augenblick lang betrachtete er sie aufmerksam, offenbar suchte er in ihrem Gesicht nach den Spuren einer weiteren durchzechten Nacht.
    Sie tat so, als habe sie seinen prüfenden Blick nicht bemerkt. »Gibt’s was Neues?«
    Salomon schüttelte den Kopf. »Ich begreife nicht, dass sie noch niemand vermisst gemeldet hat. Eine junge Frau. Sie muss doch soziale Kontakte gehabt haben. Familie. Eine Beziehung. Arbeitskollegen.«
    »Du weißt so gut wie ich, dass das nicht immer so sein muss. Wir alle kennen doch diese Fälle, wo erst anhand des Gestanks im Treppenhaus bemerkt wird, dass etwas nicht stimmt. Tote, die niemand vermisst. Und das sind beileibe nicht ausschließlich einsame alte Leute.« Lydia fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand sie vermisste, wenn sie unerwartet starb. Falls sie nicht gerade mitten in einer Ermittlung steckten, vermutlich Wochen. Köster wäre derjenige, der sich irgendwann Sorgen machen würde. Es war verrückt. Sie sah nicht schlecht aus, war noch jung genug, dass die Männer sich nach ihr umdrehten, und stand mit beiden Beinen im Leben. Dennoch war der einzige Mensch, dem sie ernsthaft fehlen würde, wenn ihr etwas zustieß, ein älterer Mann mit Bauch und stoppeliger Halbglatze, der vage väterliche Gefühle für sie hegte. Der Gedanke verbitterte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
    »Du hast recht.« Salomon tippte auf die Akte. »Außerdem könnte es in diesem Fall noch ein bisschen komplizierter sein. Wenn sie Muslimin war und von ihrer eigenen Familie hingerichtet wurde, wird sich wohl kaum einer von denen an uns wenden. Und diese Frauen haben häufig gar keine Kontakte außer zur engsten Verwandtschaft. Wer sollte sie also vermisst melden?« Er verzog das Gesicht. »Und das ist verdammt blöd. Solange wir die Identität der Toten nicht kennen, tappen wir vollkommen im Dunkeln.«
    Lydia ließ sich auf ihren Stuhl fallen, der bedenklich ächzte. »Eben. Wenn

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