Der Seele weißes Blut
doch nicht so schwer sein, ihnen beizubringen, nicht bei jeder Kleinigkeit loszubrüllen. Sie heulten ja nicht nur, wenn ihnen irgendetwas nicht passte, sondern oft ohne jeden Grund. Einfach so, vermutlich, um ihre Stimmbänder zu testen. Oder seine Nerven. Andererseits wunderte ihn bei Ellen überhaupt nichts mehr. Sie hatte ja nicht einmal sich selbst im Griff. Ständig dieser weinerliche Ton, diese verhuschten Rehaugen. Manchmal fragte er sich, in was für einem Moment geistiger Umnachtung er sie geheiratet hatte. Wütend stieß er die Wagentür auf und stieg aus. Im Haus war der Geräuschpegel nahezu unerträglich. Maja wimmerte, Lukas schimpfte, dass die blöde Ziege immer alles kaputtmache. Dazwischen Ellens hilfloses Gejammere. »Wollt ihr wohl Ruhe geben! Der Papa kommt gleich, was soll der denn von euch denken?«
Philipp schritt ins Wohnzimmer, schenkte sich einen Cognac ein und nippte daran. Sofort ging es ihm besser. Er lief mit dem Glas in die Küche. Auf dem Tisch lag eine Visitenkarte. »Kriminalhauptkommissarin Lydia Louis«. Kripo? Was hatten die denn hier gewollt?
»Ellen!«
Er hörte hastige Schritte auf der Treppe. Oben war es verdächtig still, dann drang gedämpfte Musik herunter. Irgendein Zeichentrickfilm. Ellen stürzte atemlos in den Raum. Sie trug einen ihrer vielen Jogginganzüge, darüber eine Schürze. Ihr Pferdeschwanz saß schief. Das Gesicht war blass und mager. Früher hatte sie sich geschminkt, darauf geachtet, wie sie aussah. Sich für ihn hübsch gemacht. Jetzt schien es ihr egal zu sein. Er musterte sie. »Hast du die Kinder wieder vor die Glotze gesetzt?«
Sie fuhr mit den Fingern über die Schürze. »Die beiden ließen sich einfach nicht beruhigen. Lukas hatte ein Boot aus Lego gebaut, und Maja hat es durchs Zimmer geworfen, sodass es in tausend Teile zersprungen ist. Und da ist Lukas ausgerastet und hat sie mit seinem Holzschwert geschlagen.« Sie zuckte hilflos mit den Achseln.
»Und zur Belohnung dürfen sie einen Film gucken«, bemerkte er spitz. »Das ist eine pädagogische Glanzleistung erster Güte, liebe Ellen. Meinen Glückwunsch.«
»Ich wusste einfach nicht, wie ich sie ruhig kriegen sollte«, verteidigte sie sich, den Blick verunsichert auf den Boden gerichtet. »Ich muss doch auch nach dem Essen sehen.«
Er verzog das Gesicht. »Vollkommen überfordert mit Haushalt und zwei Kindern. Ich möchte mal wissen, wie andere Frauen das machen, die zusätzlich noch berufs-tätig sind.« Er sah, dass Tränen in ihren Augen schimmerten, und wandte sich angewidert ab. Draußen vor dem Fenster kroch langsam die Abenddämmerung aus dem Tal herauf. In der Scheibe konnte er sehen, wie Ellen zum Herd lief und einen Blick in den Backofen warf.
»Es gibt Lasagne«, sagte sie. Ihre Stimme bebte. »Ist gleich fertig.«
Philipp ballte die Faust, um nicht zu ihr zu stürzen und sie zu schütteln, presste die Finger zusammen, bis er langsam ruhiger wurde. »Zieh dir was Anständiges an zum Essen«, sagte er schließlich, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Ich möchte mit meiner Ehefrau speisen und nicht mit einem Wischmopp.«
Er beobachtete, wie sie zusammenzuckte, zu einer Erwiderung ansetzte, dann aber stumm nickte und aus der Küche stürzte. Er schwenkte das Cognacglas, nahm einen weiteren Schluck und studierte noch einmal die Visitenkarte von dieser Lydia Louis. Dazu würde er Ellen nach dem Essen befragen. In aller Ruhe.
Lydia stand vor dem Plattenregal und spürte den kühlen Parkettboden unter ihren nackten Füßen. Es war halb zehn. Vor wenigen Minuten war sie nach Hause gekommen, hatte sich ausgezogen und unter der Dusche heißes Wasser über ihren Körper laufen lassen. Bis zum Abend hatten sich keine neuen Spuren ergeben. Der Fall war ungewöhnlich: eine Steinigung mitten in einem belebten Stadtwald. Keine Zeugen, keine Hinweise auf den Tat-hintergrund, lediglich die nicht identifizierte Leiche und ein paar unerklärliche Zeichen in einem Baumstamm. Wie in einem von Schmiedels Krimis, wo es von verrückten Killern wimmelte, die mit der Polizei Katz und Maus spielten und rätselhafte Zeichen und Botschaften hinterließen, die schließlich zur Lösung des Falls führten. Im wirklichen Leben waren die Verbrechen zumeist viel banaler. Sie wurden von kriminellen Banden begangen, von eifersüchtigen Ehemännern oder gierigen Erben. Sie waren unspektakulärer und einfacher zu begreifen.
Lydia schloss die Augen und versuchte, den Tag hinter sich zu lassen, für ein paar
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