Der Seele weißes Blut
Stunden zu vergessen, dass irgendwo in Düsseldorf ein brutaler Mörder frei herumlief. Es war ein Ritual, an dem sie, wenn es irgend ging, festhielt: duschen, eine Schallplatte aussuchen und bei der Musik das Verbrechen vorübergehend aus ihrem Leben verbannen. Nicht immer gelang es ihr, und an einem Tag wie diesem war es fast unmöglich. Es war weniger der Fall, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ, als vielmehr die Art und Weise, wie ihr Chef ihre Absprache missachtet hatte. Wieso hatte Weynrath ihr diesen Salomon aufgedrängt? War das purer Sadismus gewesen oder hatte er sich etwas dabei gedacht? So ziemlich jeder andere aus der Abteilung wäre ihr als Partner lieber gewesen. Salomon hatte etwas an sich, das sie wahnsinnig machte. Dieser Typ war offenbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Selbst den Affront, dass sie den Praktikanten an seiner Stelle mit in die Rechtsmedizin genommen hatte, hatte er einfach geschluckt.
Lydia seufzte. Nicht daran denken, ermahnte sie sich. Sie öffnete die Augen und ließ ihren Blick über die Regale gleiten. Schließlich zog sie eine graue Hülle hervor. Astrud Gilberto. Die Musik ihrer Kindheit, vertraute Klänge in der Muttersprache ihres Vaters. Sie legte die Platte auf den Teller und betätigte den Hebel, der die Nadel behutsam auf das schwarze Vinyl sinken ließ. Ein leises Knacken, dann die ersten Töne. Astrud Gilbertos sanfte Stimme erfüllte den Raum. Vivo sonhando, sonhando mil horas sem fim.
Lydia rollte sich auf dem Sofa zusammen und hüllte sich in das Handtuch, das sie aus dem Bad mitgebracht hatte. Lautlos sang sie mit. Tempo em que vou perguntando se gostas de mim. Die Tränen kamen, ohne dass sie es merkte. Als sie spürte, dass ihre Wangen feucht wurden, fuhr sie rasch mit dem Handtuch darüber. Aber sie ließen sich nicht eindämmen. Erst als Corcovado lief, kam sie langsam zur Ruhe.
6
Sommer 1984
Der Kakao ist umgekippt. Er hat noch versucht, die Tasse aufzufangen, aber sie ist so dick und glatt. Ängstlich blickt er zu Mama auf. Sie steht am Herd und rührt irgendetwas um. Sie hat es noch nicht gemerkt. Er könnte aufstehen und aus der Küche schlüpfen. Er war es nicht. Er war gar nicht hier. Es muss der Wind gewesen sein. Oder die Katze. Minka. Minka war es. Letzte Woche hat Minka einen Blumentopf im Wohnzimmer umgeworfen. Der ganze Teppich war voller Erde. »Eine Riesensauerei!«, hat Papa geschrien. Aber Mama hat gesagt, »Minka ist doch nur ein armes Tier, das nicht weiß, was es tut.« Da ist Papa noch böser geworden. Er hat Minka gepackt und aus dem Fenster geworfen. »Wenn sie nur ein blödes Tier ist, gehört sie auch nicht ins Haus!«, hat er gebrüllt. Mama hat angefangen zu weinen und ist rausgelaufen, um nach Minka zu sehen. Ihr ist nichts passiert, das Wohnzimmerfenster geht hinaus zum Garten. Sie ist auf dem Rasen gelandet, hat sich im Gebüsch verkrochen und beleidigt ihre Pfoten geleckt.
»Mensch, was ist das denn für eine Sauerei!«
Jetzt hat Mama den Kakaosee entdeckt. Zu spät, es Minka in die Schuhe zu schieben.
»Ich wollte das nicht«, beteuert er. »Die Tasse war ganz glitschig.«
Mama kommt mit dem Lappen und wischt alles auf. Die Tasse ist heil geblieben, Gott sei Dank.
»Kerstin!«, ruft sie. »Komm sofort her!«
Es poltert auf der Treppe, und Kerstin kommt in die Küche gerannt. Sie macht ein merkwürdiges Gesicht, so als hätte man sie beim Klauen erwischt. Sie hat grüne Farbe um die Augen. Schminke von Mama. Komisch sieht sie aus. Er merkt es sofort, aber Mama scheint nichts zu sehen.
»Du solltest doch auf deinen Bruder aufpassen!«, schimpft sie. »Guck dir die Sauerei an! Du kannst ihn doch nicht mit dem Kakao allein lassen.« Wütend starrt sie Kerstin an. Gleich entdeckt sie die Schminke, denkt er. Doch nichts geschieht. »Geh ihn waschen, los! Und dann bring ihn in den Kindergarten.«
Kerstin nimmt ihn bei der Hand, zerrt ihn vom Stuhl und schleift ihn ins Bad. Er hasst waschen. Er überlegt, ob er sich losreißen soll. Aber das macht es nur schlimmer.
Er muss sich auf einen Hocker vor das Waschbecken stellen. Sie macht einen Waschlappen nass. Kaltes Wasser. Sie reibt ihm damit über das Gesicht, bis er glaubt, keine Luft mehr zu kriegen. Er schlägt nach ihrer Hand. Aber sie packt ihn im Nacken und drückt fester zu. Sie ist stark. Sie ist schon zwölf.
Endlich ist sie fertig und trocknet ihn ab. Er betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Es ist ganz rot. Wie bei Fieber. Wenn er Fieber hätte, müsste er
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