Der Seelenbrecher
Niemand schien ihr zuhören zu wollen. Stattdessen wandten sich alle von ihr ab und redeten mit jemandem, den sie bislang noch gar nicht gesehen hatte.
»Und wie lange, sagten Sie, hat sie dieses Zimmer nicht mehr verlassen?«
Der Kopf des Rettungsarztes versperrte ihr die Sicht zur Tür. Von dort kam jetzt die Stimme einer jungen Frau: »Bestimmt seit drei Tagen. Vielleicht auch länger. Hab mir schon gedacht, dass mit der was nicht stimmt, als die eincheckte. Aber sie hat gesagt, sie will nicht gestört werden.«
Was erzählt die für einen Quatsch? Vanessa schüttelte den Kopf. Ich würde nie freiwillig hier absteigen. Nicht eine Nacht!
»Ich hätte sie ja auch nicht gerufen, aber dieses schreckliche Röcheln wurde immer lauter, und …«
»Schauen Sie mal!« Das war die Stimme des kleineren Polizisten, direkt neben ihrem Ohr.
»Was?«
»Da ist doch was. Da.«
Vanessa spürte, wie der Arzt ihre Finger auseinanderbog und vorsichtig mit der Pinzette etwas aus ihrer linken Hand entfernte.
»Was ist das?«, fragte der Polizist.
Sie war ebenso erstaunt wie alle anderen im Zimmer. Vanessa hatte gar nicht gemerkt, dass sie überhaupt etwas gehalten hatte.
»Ein Notizzettel.«
Der Arzt öffnete das in der Mitte gefaltete Papier. Vanessa verdrehte die Augen, so dass sie einen Blick darauf werfen konnte, doch sie sah nur unverständliche Hieroglyphen. Der Text war in einer ihr völlig fremden Sprache verfasst.
»Was steht drauf?«, fragte der andere Beamte von der Tür aus.
»Komisch.« Der Arzt runzelte die Stirn und las vor: »Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.« Um Himmels willen. Die Tatsache, dass der Rettungsarzt die wenigen Worte ohne zu zögern abgelesen hatte, machte ihr das ganze Ausmaß des Alptraums deutlich, der sie gefangen hielt. Aus irgendeinem Grund war ihr jeg liche Kommunikationsfähigkeit abhandengekommen. Vanessa konnte in diesem Augenblick weder sprechen noch lesen, und sie ahnte, dass sie sogar das Schreiben verlernt hatte.
Der Arzt leuchtete ihr wieder direkt in die Pupillen, und auf einmal schienen auch ihre restlichen Sinne betäubt zu sein: Sie konnte den Gestank ihres Körpers nicht mehr riechen, den Teppich unter ihren nackten Füßen nicht mehr spüren, sie merkte nur noch, wie die Angst in ihr immer größer und das Stimmengewirr um sie herum immer leiser wurde. Denn kaum hatte der Arzt den kurzen Satz auf dem Zettel vorgelesen, hatte eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.
»Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.« Eine Macht, die ihre kalte Hand nach ihr ausstreckte und sie hinabzog. Zurück an den Ort, den sie niemals im Leben wiedersehen wollte und den sie erst vor wenigen Minuten verlassen hatte.
Es war kein Traum. Oder doch?
Sie versuchte, dem Arzt ein Zeichen zu geben, doch als sich dessen Konturen langsam auflösten, begann sie zu begreifen, und nacktes Grauen ergriff sie. Man hatte sie wirklich nicht gehört. Weder der Arzt, noch die Frau noch die Polizisten hatten mit ihr reden können. Denn sie war nie in dieser Absteige aufgewacht. Im Gegenteil. Als die Halogenlampe über ihr wieder zu flackern begann, wusste sie es: Sie war ohnmächtig geworden, als die Folter begann. Nicht der Irre, sondern das Hotelzimmer war Teil eines Traums gewesen, der jetzt vor der grausamen Realität die Flucht ergriff.
Oder irre ich mich schon wieder? Hilfe. Helft mir! Ich kann nichts mehr unterscheiden. Was ist real? Was nicht?
Und schon war alles wieder so wie zuvor. Der nasse Keller, der Metalltisch, der gynäkologische Stuhl, auf dem sie gefesselt lag. Nackt. So nackt, dass sie den Atem des Wahnsinnigen zwischen ihren Beinen spürte. Er hauchte sie an. Dort, wo sie am empfindlichsten war. Dann tauchte sein vernarbtes Gesicht kurz vor ihren Augen auf, und ein lippenloser Mund sagte: »Hab die Stelle nur noch mal markiert. Jetzt kann es losgehen.«
Er griff zum Lötkolben.
Heute, 10.14 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst
U nd, meine Damen und Herren, was sagen Sie zu dieser Einführung? Eine Frau wacht aus einem Alptraum auf und befindet sich sofort im nächsten. Interessant, oder?«
Der Professor stand von der langgestreckten Eichenholztafel auf und sah in die verstörten Gesichter seiner Studenten.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Zuhörer sich heute Morgen mehr Mühe mit ihrer Kleiderauswahl gegeben hatten als er selbst. Er hatte wie immer blind irgendeinen zerknitterten Anzug aus seinem Kleiderschrank gegriffen. Der Verkäufer hatte
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