Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seelenbrecher

Der Seelenbrecher

Titel: Der Seelenbrecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
 
     

71 Tage vor der Angst
    Seite 1 ff. der Patientenakte Nr. 131071/VL
    Zum Glück war alles nur ein Traum. Sie war nicht nackt. Und ihre Beine waren auch nicht an diesen vorsintflutlichen Gynäkologenstuhl gefesselt, während der Wahnsinnige auf einem verrosteten Beistelltisch seine Instrumente sortierte. Als er sich umdrehte, konnte sie zunächst nicht erkennen, was er in seiner blutverkrusteten Hand hielt. Dann, als sie es sah, wollte sie die Augen schließen, doch es gelang ihr nicht. Sie konnte den Blick nicht von dem glühenden Lötkolben wenden, der sich langsam ihrer Körpermitte näherte. Der Fremde mit dem verbrühten Gesicht hatte ihre beiden Lider nach oben geklappt und mit einem Drucklufttacker in den Augenhöhlen fixiert. Sie dachte, größere Schmerzen würde sie in dem kurzen Rest ihres Lebens nicht mehr spüren. Doch als der Lötkolben aus ihrem Gesichtsfeld verschwand und es zwischen ihren Beinen immer heißer wurde, ahnte sie, dass die Qualen der letzten Stunden nur ein Vorspiel gewesen waren.
Dann, in einem Moment, in dem sie bereits glaubte, den Geruch versengten Fleisches zu riechen, wurde alles durchsichtig. Der nasskalte Keller, in den man sie verschleppt hatte, die zitternde Halogenlampe über ihrem Kopf, der Folterstuhl und der Metalltisch verflüchtigten sich – zurück blieb ein schwarzes Nichts.
    Gott sei Dank , dachte sie, nur ein Traum. Sie schlug die Augen auf. Und begriff nichts.
Der Alptraum, in dem sie eben noch gefangen gewesen war, hatte seine Gestalt nicht verloren, sondern nur verändert.
Wo bin ich?
Der Inneneinrichtung nach war es ein heruntergekommenes Hotelzimmer. Die fleckige Tagesdecke auf dem altersschwachen Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso vielen Brandlöchern übersät wie die grünbräunliche Auslegeware. Die Tatsache, dass sie die rauhen Teppichfasern unter ihren Füßen spüren konnte, ließ sie auf dem unbequemen Holzstuhl noch mehr verkrampfen.
Ich bin barfuß. Warum trage ich keine Schuhe? Und wieso sitze ich in einer Hinterhofabsteige und starre auf das verschneite Testbild eines Schwarzweißfernsehers? Die Fragen knallten wie Billardkugeln an die Banden ihrer Schädeldecke. Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ihr jemand einen Schlag verpasst. Dann sah sie zur Lärmquelle. Zur Zimmertür. Sie bebte einmal, dann erneut, und schließlich flog sie auf. Zwei Polizisten stürmten herein. Beide uniformiert, beide bewaffnet, so viel konnte sie erkennen. Zuerst zielten ihre Waffen auf ihren Oberkörper, doch dann senkten sie sie langsam, und die angespannte Nervosität in ihren Gesichtern wich fassungslosem Entsetzen.
»Verdammt, was ist denn hier passiert?«, hörte sie den kleineren der beiden fragen, der die Tür eingetreten hatte und zuerst hereingestürmt war. »Sanitäter«, brüllte der andere. »Ein Arzt. Wir brauchen sofort Hilfe!«
Gott sei Dank , dachte sie nun zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden. Sie konnte vor Angst kaum atmen, der ganze Körper tat ihr weh, und sie roch nach Kot und Urin. Das alles und die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie sie hierhergekommen war, ließ sie fast wahnsinnig werden, aber immerhin standen jetzt zwei Polizisten vor ihr und wollten medizinische Hilfe holen. Das war nicht gut, aber immer noch wesentlich besser als der Irre mit dem Lötkolben.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.
»Können Sie mich hören?«
»Ja…«, antwortete sie dem Arzt, dessen Augenringe so aussahen, als wären sie auf ewig in sein Gesicht tätowiert. »Sie scheint mich nicht zu verstehen.«
»Doch, doch.« Sie wollte ihren Arm heben, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.
»Wie heißen Sie?« Der Arzt nahm eine Kugelschreibertaschenlampe aus der Brusttasche seines Hemdes und leuchtete ihr in die Augen.
»Vanessa«, krächzte sie und ergänzte dann: »Vanessa Strassmann.«
»Ist sie tot?«, hörte sie einen der Polizisten von hinten fragen.
»Verdammt, die Pupillen reagieren kaum auf Licht. Und sie scheint uns weder zu hören noch zu sehen. Sie ist katatonisch, vielleicht komatös.«
»Aber das ist doch Blödsinn«, schrie Vanessa jetzt und wollte aufstehen, doch sie konnte noch nicht einmal ihren Arm heben.
Was geht hier vor?
Sie wiederholte den Gedanken laut und gab sich Mühe, so deutlich wie möglich zu sprechen.

Weitere Kostenlose Bücher