1511 - Der letzte Engel
Aber es war nicht etwa das Vogelmädchen Carlotta, das plötzlich erschienen war, um mich aus dieser Situation zu befreien. Ich wusste nicht mal, wie mein Retter oder meine Retterin aussah, denn ich war nicht in der Lage, meinen Kopf in die Höhe zu drücken, um wenigstens etwas sehen zu können.
Aber ich war nicht in den Brunnen gefallen, wie es Art Quinlain und seine beiden Söhne gern gesehen hätten.
Allerdings hatte ich auch jemanden zurücklassen müssen. Das war Suko, der wahrscheinlich nach mir hatte dran sein sollen, um dem Teufel seine Seele zu überlassen, wie es die fünf Hexen gern gehabt hätten, die den Brunnen ihr Eigen nannten. Sie hatten die Vergangenheit wieder aufleben lassen und Menschen auf grausame Weise für den Höllenherrscher geopfert.
Ich war jetzt frei, aber war ich das wirklich? Musste ich nicht davon ausgehen, von einer Gefahr in die andere geraten zu sein, ohne etwas dagegen tun zu können?
Das war mein Problem, aber zuerst einmal war ich froh, nicht in diesem Kessel mit dem siedenden Öl gelandet zu sein, obwohl ich mir durch mein Kreuz letztendlich noch eine kleine Chance ausgerechnet hatte.
Aber hundertprozentig war ich mir da auch nicht sicher gewesen, und jetzt stellte ich mir die Frage, wer mein Retter war und ob er sich auch in den Kreis der Hexen einreihen würde, was ich allerdings nicht glaubte.
Egal, ich nahm es hin. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Ebenso musste ich den Verlust meiner Beretta verschmerzen, die sich jetzt im Besitz der Quinlains befand.
Ich hing mit den Füßen nach unten, und das blieb leider auch weiterhin so. Die Hände meines Retters hatten mich in den Achselhöhlen erwischt, und dabei war es auch geblieben.
Über mir rauschte es. Es war das Geräusch der Flügel oder Schwingen, denn ich befand mich nicht in den Händen eines normalen Menschen.
Mich hatte ein Wesen mit zwei Flügeln vom Hexenbrunnen weggeholt.
Ein Engel? Oder ein engelähnliches Wesen? Ich konnte es nicht sagen. Ich hatte nur einen Schatten gesehen, und so musste ich mich weiterhin auf den Unbekannten verlassen und darauf, dass er nicht vorhatte, mich zu töten. Wohin flogen wir? Ein Ziel war für mich nicht zu erkennen, auch wenn ich die Augen weit geöffnet hielt. Wir bewegten uns durch die Luft. Ich erlebte sie wie einen Strom in meinem Gesicht und spürte auch die Kälte, die in meine Haut biss.
Es fiel mir schwer, bei diesem Flug den Kopf zu drehen, um nach oben zu schauen. Da war ein Ziehen und Reißen in meinem Hals zu spüren, aber viel sah ich immer noch nicht.
Eine menschliche Gestalt. Dunkle Haare, die vom Wind erfasst worden waren. Ob die Gestalt ein Mann oder eine Frau war, erkannte ich nicht.
Egal, ich wollte nur in Sicherheit sein.
Aber warum war ich gerettet worden?
Diese Frage quälte mich zwar nicht, aber sie beschäftigte mich schon.
War der rettende Engel ein Feind der Hexen? Hatte er ihnen einen Streich spielen wollen?
Es war durchaus möglich. In meinem Leben und bei meinem Job musste ich mit allem rechnen. Ich hatte zudem oft genug erlebt, dass es Geschöpfe gab, die sich erwachsene Menschen und auch Kinder nur in ihrer Fantasie vorstellen konnten.
Der Wind umbrauste meinen Körper. Hin und wieder schien er sich in Stimmen zu verwandeln, die mir etwas in die Ohren flüsterten, was ich nicht verstand.
Der Flug dauerte an.
Wohin? Ins Nirgendwo? In ein Reich zwischen den Welten, das von Engeln und ähnlichen Geschöpfen bewohnt war?
Ich wusste, dass es so etwas gab. Das war mir von Raniel, dem Gerechten, klargemacht worden, einem der Engel, die mir bekannt waren.
Ich kannte auch andere dieser Gestalten. So hatte ich in der Vergangenheit gegen Belial, den Lügenengel, kämpfen müssen und ihn zum Glück besiegen können.
Und wen erlebte ich jetzt?
Ich wusste es nicht. Ich wollte auch nicht gegen den Wind anschreien und einfach nur abwarten, wo die Reise für mich endete. Hoffentlich nicht in der Hölle.
Etwas beruhigte mich. Wäre dieser Engel ein wahr gewordener höllischer Albtraum gewesen, dann hätte mir mein Kreuz eine Warnung geschickt. Das zumindest hoffte ich. Da es nicht eingetreten war, konnte ich mich darauf verlassen, dass mein Befreier in gewisser Hinsicht auf meiner Seite stand, was auch logisch gewesen wäre.
Ich kannte es bereits von den Ausflügen mit dem Vogelmädchen Carlotta her. Es war schwer, in der Luft die Augen offen zu halten, denn der Flug wind jagte einem die Tränen in die Augen. Wenn ich sie öffnete, dann
Weitere Kostenlose Bücher