Der Seelenbrecher
Mann mit Ihrer Intelligenz.«
Er zog die Hand hinter dem klobigen Röhrengerät hervor und drehte sich kopfschüttelnd zu Greta Kaminsky herum.
Die neunundsiebzigjährige Bankierswitwe hatte erst vor fünf Minuten an seine Tür geklopft und ihn gebeten, ob er nicht mal nach ihrem »Quatschkasten« schauen könne. So nannte sie den monströsen Standfernseher, der für ihr kleines Krankenzimmer im Dachgeschoss der Teufelsbergklinik viel zu groß dimensioniert war. Natürlich hatte er ihr den Gefallen getan, obwohl Professor Raßfeld ihm das strengstens untersagt hatte. Der Klinikleiter wollte nicht, dass Caspar ohne Aufsicht sein Einzelzimmer verließ.
»Ich fürchte, Rätsel sind nicht ganz so mein Ding, Greta.« Er atmete etwas Staub ein, der sich hinter dem Fernseher angesammelt hatte, und musste husten.
»Außerdem bin ich keine Frau. Ich kann nicht zwei Dinge auf einmal erledigen.«
Er presste den Kopf wieder seitlich gegen den Fernseher und versuchte blind auf der Rückseite die winzige Steckdose für das Antennenkabel zu finden. Das klobige Ding ließ sich nicht einen Millimeter von der Wand rücken. »Papperlapapp!«
Greta klopfte zweimal mit der flachen Hand auf die Matratze. »Stellen Sie sich nicht so an, Caspar!«
Caspar.
Die Pfleger hatten ihm diesen Spitznamen verpasst. Irgendwie musste man ihn ja ansprechen, solange man nicht wusste, wie er wirklich hieß.
»Versuchen Sie es doch mal! Vielleicht entpuppen Sie sich noch als Rätselkönig. Wer weiß, Sie können sich doch an nichts mehr erinnern!«
»Falsch«, stöhnte er und schob seine Hand noch etwas weiter in den Spalt zwischen Fernseher und Rauhfasertapete.
»Ich weiß, wie man sich eine Krawatte bindet, ein Buch liest oder Fahrrad fährt. Nur meine Erlebnisse sind nicht mehr da.«
»Ihr Faktenwissen ist zum größten Teil unversehrt«, hatte ihm Dr. Sophia Dorn, seine behandelnde Psychiaterin, gleich zu Beginn ihrer ersten Sitzung erklärt. » Aber alles, was Sie emotional definiert, also das, was Ihre Persönlichkeit ausmacht, ist leider verschwunden . «
Retrograde Amnesie. Gedächtnisverlust.
Er konnte sich weder an seinen Namen noch an seine Familie oder seinen Beruf erinnern. Er wusste noch nicht einmal, wie er überhaupt in dieses luxuriöse Privatkrankenhaus gelangt war. Das alte Gebäude der Teufelsbergklinik stand am Rand der Stadt, auf dem höchsten Berg Berlins, künstlich aufgeschüttet aus den Trümmern der Häuser, die den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen waren. Heute war der Teufelsberg eine begrünte Deponie, auf dessen Spitze die US-Armee in den Zeiten des Kalten Krieges ihre Abhöranlagen installiert hatte. Die vierstöckige Krankenhausvilla, in der Caspar behandelt wurde, hatte als Offizierscasino der Geheimdienstangehörigen fungiert, bis es nach dem Fall der Mauer von dem renommierten Psychiater und Neuroradiologen Professor Samuel Raßfeld ersteigert, luxusmodernisiert und zu einem der führenden Krankenhäuser für psychosomatische Störungen umgebaut worden war. Jetzt thronte die Klinik wie eine von Zugbrücken abgeschirmte Burg hoch über dem Grunewald und war nur durch eine schmale private Zufahrtsstraße erreichbar, auf der man Caspar vor knapp zehn Tagen gefunden hatte. Bewusstlos, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt und unterkühlt.
Dirk Bachmann, der Hausmeister der Teufelsbergklinik, hatte Raßfeld an jenem Abend zu einem Termin ins WestendKrankenhaus gefahren. Wäre er nur eine Stunde später zurückgekehrt, wäre Caspar am Wegesrand erfroren. Manchmal fragte er sich, ob das einen Unterschied gemacht hätte.
Denn was ist ein Leben ohne Identität im Vergleich zum Tod?
»Sie dürfen sich nicht so quälen«, mahnte Greta leicht tadelnd, als hätte sie seine düsteren Gedanken gelesen. Sie klang dabei wie eine Ärztin und nicht wie eine Mitpatientin, die selbst unter Angstpsychosen litt, wenn sie zu lange alleine war.
»Die Erinnerung ist wie eine schöne Frau«, erklärte sie ihm, während er immer noch nach der verdammten Buchse für das Antennenkabel suchte.
»Wenn Sie ihr hinterherlaufen, wird sie sich gelangweilt abwenden. Beschäftigen Sie sich aber mit etwas anderem, wird die eifersüchtige Schönheit ganz alleine zu Ihnen zurückkommen.«
Sie kicherte hell.
»So wie unsere hübsche Therapeutin, die sich so liebevoll um Sie kümmert.«
»Wie meinen Sie das denn jetzt?«, fragte Caspar erstaunt.
»Na ja, das sieht doch selbst eine alte Oma. Ich finde Sophia und Sie passen ganz gut zusammen,
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