Der Seelenleser
gezwungen sah, den Polizeidienst zu verlassen. Wenige Monate später erhielt ich einen Anruf von einem berühmten Strafverteidiger, der mich fragte, ob ich bereit wäre, mich mit einem seiner Klienten zu treffen. Der Mann hatte ein Problem und musste zwischen zwei Möglichkeiten wählen, die beide gleichermaßen schlimme Auswirkungen haben würden. Ich habe ihm geholfen, einen dritten Weg zu finden. Eigentlich war es nur ein Gefallen, den ich dem Strafverteidiger tun wollte. Ich dachte hinterher nicht mehr groß darüber nach. Doch vier Monate später bekam ich wieder einen Anruf. Der erste Mann, dem ich geholfen hatte, hatte mich einem anderen weiterempfohlen. Das war der Beginn. Es gibt keine Berufsbeschreibung für das, was ich tue. Ich verschicke keine Bewerbungsunterlagen. Ich lege keine Referenzen vor.«
Vera List betrachtete ihn konzentriert und versuchte, aus jeder Silbe herauszudeuten, wie sie gemeint war. Selbst die Pausen zwischen den Wörtern sprachen mit ihr.
» Eine Lösung für Ihr Problem zu finden ist keine Sache des › ob‹, sondern des › wie‹«, fuhr er fort. » Und was das Vertrauen angeht: Im Geheimdienst gilt als Messlatte die Empfehlung durch jemanden, von dem man bereits weiß, dass man ihm vertrauen kann. Und manchmal ist dies das Einzige, was man in der Hand hat, bevor man die Entscheidung treffen muss zu springen, wie Sie es genannt haben.
Falls Sie noch einmal mit Moretti sprechen wollen, bevor wir weitermachen, habe ich dafür volles Verständnis. Und wenn ich Sie nicht wiedersehe, trage ich Ihnen auch nichts nach.«
Vera List reckte ihr Kinn, nickte und atmete langsam und tief ein.
Er vermutete, dass ihr Herz an der Grenze zum Kammerflimmern war.
» Es tut mir leid«, sagte sie. » Ich bin nicht so gelassen, wie ich es gerne wäre.«
Fane konnte sie gut verstehen. Normalerweise war sie diejenige, die sich verstörende Geschichten anhörte. Es war ihr unangenehm, dass die Rollen jetzt vertauscht waren.
» Die Situation«, begann sie, » ist… beunruhigend. Beide Klienten sind Frauen. Sehr verschiedene Persönlichkeiten. Sie haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Sorgen. Sie kennen sich nicht. Sind sich nie begegnet. Meine Klienten kommen und gehen durch verschiedene Türen, damit sie sich niemals begegnen.
Elise kommt jetzt schon beinahe zwei Jahre zu mir. Lore seit etwa sechs Monaten. Sie sind beide verheiratet.« Sie stockte kurz. » Und sie haben beide eine Affäre.
Elise steckt seit ungefähr fünf Monaten in ihrem Seitensprung. Ich kenne den Namen des Mannes nicht, aber seit die Sache begonnen hat, wurde sie für mehrere Monate das zentrale Thema unserer Gespräche.
Von Beginn an war es eine sehr intensive Beziehung. Der Mann verführte sie in jeder Bedeutung dieses Wortes. Sie erzählt mir, dass er praktisch ihre Gedanken lesen kann, dass er ihr Innerstes kennt, dass er ihr Verlangen, ihre Wünsche, ihre Ängste erahnt. Sie ist von ihm fasziniert.«
Veras Hände lagen in ihrem Schoß, die Fingerspitzen sanft verschränkt. Sie trug keinen Ehering, was Fane überraschte. Ihre Pose wirkte professionell und doch natürlich und unbefangen.
» Gelegentlich«, fuhr sie fort, » habe ich gespürt, dass Elise manches daran… unheimlich findet. Aber nicht gruselig genug, um mit der Sache aufzuhören. Das ist für sie ziemlich typisch. Sie ist hübsch und hilfsbedürftig. Mitfühlend. Hat eine Tendenz, selbstzerstörerisch zu sein, aber gleichzeitig ist sie auch ein Stehaufmännchen.
Die andere Frau, Lore, begann ihre Affäre kurz nachdem sie zum ersten Mal zu mir gekommen ist. Wieder erfuhr ich den Namen des Mannes nicht. Als sie die Sache zum ersten Mal erwähnte, schien sie mir eher nebensächlich zu sein. Es war anders als bei Elise, Lore wollte nicht darüber reden.
Doch im Laufe der nächsten Monate offenbarte sich ein sehr seltsames Muster. Lore begann, über ihren Liebhaber zu reden, und wenn sie es tat, klang sie genauso wie Elise. Er war unglaublich verständnisvoll. Er konnte praktisch ihre Gedanken lesen. Er kannte sie wie seine Westentasche, wusste, was sie wollte, wovor sie Angst hatte. Selbst über ihre Fantasien wusste er Bescheid.«
Vera schwieg kurz, schluckte mehrmals.
Fane stand auf und ging ins Badezimmer hinüber. Er holte ein Glas Wasser und brachte es ihr.
» Danke«, sagte sie und nahm auch sofort einen Schluck. Sie räusperte sich, während er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.
» Zuerst war ich von den Ähnlichkeiten
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