Der Seelensammler
Romans meldet. Gleichzeitig habe ich so den Verdacht, dass es
nicht dazu kommen wird, weil wir uns bereits alles gesagt haben.
Die zweite Begegnung war die mit N.N., der Ende des neunzehnten
und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt hat.
Er ist der erste (und bisher einzige) Serienmörder, der gleichzeitig
auch ein Verwandlungskünstler ist – und einer der interessantesten
kriminologischen Fälle überhaupt.
N.N. sind nicht etwa die Initialen seines Namens, sondern stehen für
die lateinische Abkürzung Nomen Nescio, was so viel
bedeutet wie »den Namen weiß ich nicht«.
Im Jahr 1916 wurde in Belgien, am Strand von Ostende, die Leiche
eines etwa fünfunddreißigjährigen Mannes angespült. Anhand der Kleider, die der
Ertrunkene am Leib trug, und der Dokumente, die er bei sich hatte,
identifizierte man ihn als einen Beamten, der zwei Jahre zuvor spurlos aus
Liverpool verschwunden war. Als die Behörden den eigens aus England angereisten
Verwandten die Leiche zeigten, erkannten sie ihn jedoch nicht wieder und
bestanden darauf, dass eine Verwechslung vorliege.
Die Fotos der Angehörigen ließen allerdings eine täuschende
Ähnlichkeit zwischen N.N. und dem englischen Beamten erkennen. Aber das war
nicht das Einzige, was die beiden verband: Sie teilten die Leidenschaft für
Pudding und rothaarige Prostituierte. Beide nahmen ein Lebermedikament, und
beide zogen das rechte Bein nach. (Bei dem Ertrunkenen schloss der
Gerichtsmediziner das aus der stärker abgenutzten rechten Schuhsohle. Auch
Schwielen seitlich am rechten Fuß konnten das belegen.)
Abgesehen von diesen Ähnlichkeiten fand die Polizei in N.N.s Wohnung
mehrere Ausweise und Gegenstände, die verschiedenen, aus ganz Europa stammenden
Personen gehört hatten. Weitere Ermittlungen ergaben, dass sie ausnahmslos
spurlos verschwunden waren. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass die
Opfer immer älter wurden.
N.N. schien sie also so auszuwählen, dass er ihre Identität annehmen
konnte.
Ihre Leichen wurden nie gefunden, aber vermutlich hatte N.N. die
Menschen ermordet, bevor er in ihre Haut schlüpfte.
Da man die These damals nur unzureichend beweisen konnte, kam der
Fall zu den Akten und wurde erst in den Dreißigerjahren wieder ausgegraben.
Damals veröffentlichten Courbon und Fail die ersten psychiatrischen Studien zum Fregoli-Syndrom, das nach dem berühmten italienischen
Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli benannt ist. Damals erschienen ebenfalls
Artikel zu einer neurologischen Störung namens Capgras-Syndrom .
Beide Erkrankungen sind durch ein Phänomen gekennzeichnet, das dem von N.N.
diametral entgegengesetzt ist: Wer davon betroffen ist, glaubt, dass die
anderen sich verwandelt haben. Aber die Artikel dieser Wissenschaftler führten
zu weiteren Forschungsarbeiten, die andere Syndrome wie beispielsweise das Chamäleon-Syndrom beschrieben, das viel mit dem belgischen
Fall zu tun hat – und Woody Allen zu seinem wunderbaren Film Zelig inspirierte.
Auf dem Fall N.N. fußt auch ein neuer Zweig der Rechtswissenschaften,
die sogenannte forensisch-neurowissenschaftliche Forschung. Sie beschäftigt
sich unter dem Aspekt des genetischen Codes oder der Physiologie der Matrix mit
kriminellen Handlungen – eine Herangehensweise, die zu einem neuen Verständnis,
ja, zu einer Neubewertung bestimmter Straftaten geführt hat. Zum Beispiel gibt
es Strafermäßigung für Mörder, deren Frontallappen geschädigt sind oder die
eine genetische Ausstattung besitzen, die sie zu Gewalt neigen lässt. Es konnte
auch der Nachweis erbracht werden, dass die Tat eines Veganers, der seine
Freundin erstach, durch Vitamin-B12-Mangel begünstigt wurde. Das wiederum hatte
Schizophrenie bei ihm ausgelöst.
Trotzdem: N.N.s Begabung ist und bleibt ein Einzelfall. Er hat bis
heute nur ansatzweise eine Entsprechung gefunden, und zwar in dem Fall des
»Mädchens im Spiegel«, den ich im Roman beschrieben habe. Diese junge
Mexikanerin hat es tatsächlich gegeben, doch im Gegensatz zu N.N. hat sie nie
jemanden umgebracht. Aus Gründen der Diskretion habe ich ihren Namen in
Angelina geändert.
N.N. liegt nach wie vor auf einem kleinen Friedhof am Meer begraben.
Auf seinem Grabstein steht folgender Nachruf: »Leiche eines Ertrunkenen ohne
Identität. Ostende – 1916.«
Dank
Ich danke meinem Verleger Stefano Mauri für die Leidenschaft,
mit der er an seine Projekte herangeht, und für seine Freundschaft, von der ich
mich sehr geehrt fühle.
Mein Dank gilt auch
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