Der Seelensammler
FÜNF TAGE ZUVOR
0 Uhr 03
Die Adresse lag außerhalb der Stadt. Wegen des schlechten
Wetters und des Navis, das die Straße nicht fand, hatten sie länger als eine
halbe Stunde bis zu dem abgelegenen Ort gebraucht. Hätte zu Beginn der
Auffahrtsallee nicht die kleine Laterne gebrannt, hätten sie das Grundstück für
unbewohnt gehalten.
Der Krankenwagen fuhr langsam durch den verwahrlosten Garten. Das
Blaulicht entriss der Dunkelheit moosbedeckte Nymphen und verstümmelte
Venusskulpturen. Die begrüßten sie mit einem schiefen Lächeln und ebenso
eleganten wie unvollständigen Gesten. Sie tanzten regungslos, nur zu ihrem
eigenen Vergnügen.
Da es gewitterte, wirkte die alte Villa wie ein sicherer Hafen. Es
brannte zwar kein Licht, doch die Tür stand offen.
Das Haus erwartete sie.
Sie waren zu dritt: Monica, die junge Internistin, die in dieser
Nacht Notdienst hatte; Tony, ein Krankenpfleger mit viel Erfahrung bei
Notfalleinsätzen, und der Fahrer, der im Krankenwagen sitzen blieb, während
sich die anderen beiden zum Haus vorkämpften. Bevor sie es betraten, riefen sie
laut nach dem Bewohner.
Keine Antwort. Sie gingen ins Haus.
Ein abgestandener Geruch schlug ihnen entgegen, und im langen Flur
spendeten mehrere Lampen ein schwaches, orangefarbenes Licht. Rechts führte
eine Treppe ins obere Stockwerk.
Im hintersten Raum lag ein lebloser Körper.
Sie eilten zu ihm, um Erste Hilfe zu leisten, und merkten, dass sie
in einem Wohnzimmer standen. Bis auf den abgenutzten Sessel vor dem alten
Fernseher waren alle Möbel mit weißen Laken verhängt. Tatsächlich war alles an
diesem Ort irgendwie veraltet.
Monica ging neben dem auf der Erde liegenden, nach Luft ringenden
Mann auf die Knie. Sie rief nach Tony und dem Notfallkoffer.
»Er ist schon ganz blau: Zyanose«, stellte sie fest.
Tony sah nach, ob die Atemwege frei waren, und presste ihm
anschließend den Beatmungsbeutel an die Lippen. Monica leuchtete ihm
gleichzeitig mit einer Stablampe in die Augen.
Er war höchstens fünfzig und bewusstlos. Er trug einen gestreiften
Schlafanzug, Lederpantoffeln und einen Bademantel. Er wirkte ungepflegt, hatte
sich schon seit Tagen nicht mehr rasiert, und sein Haar war ungekämmt. Mit
einer Hand hielt er noch das Handy umklammert, mit dem er den Notruf – heftige
Schmerzen in der Brust – getätigt hatte.
Das nächstgelegene Krankenhaus war die Gemelli-Klinik. Da es sich um
einen Fall mit Dringlichkeitsstufe eins handelte, hatte die diensthabende
Ärztin sofort den nächsten Rettungswagen genommen.
Deshalb war Monica jetzt hier.
Ein Tisch war umgestürzt, eine Schale zerbrochen: überall am Boden
Kekse und Milch, vermischt mit Urin. Dem Mann musste beim Fernsehen schlecht
geworden sein, und er hatte sich in die Hose gemacht. Typisch!, dachte Monica.
Ein allein lebender Mann mittleren Alters bekommt einen Herzinfarkt. Schafft er
es nicht, Hilfe anzufordern, wird er normalerweise erst gefunden, wenn er schon
tot ist und Nachbarn der Gestank auffällt. Aber bei dieser abgelegenen Villa
war nicht einmal das wahrscheinlich. Wenn der Mann keine näheren Verwandten
hatte, hätten Jahre vergehen können, bis sein Tod bemerkt worden wäre. Das
ganze Szenario kam Monica bekannt vor, und sie empfand Mitleid mit ihm. Zumindest
so lange, bis sie sein Schlafanzugoberteil für die Herzmassage öffneten. In die
Haut seines Brustkorbs war eine Botschaft tätowiert.
Töte mich.
Ärztin und Pfleger übersahen sie geflissentlich. Ihre Aufgabe
bestand darin, Leben zu retten. Aber von diesem Moment an gingen sie mit
besonderer Aufmerksamkeit vor.
»Die Sättigung sinkt«, sagte Tony, nachdem er den Wert vom Messgerät
abgelesen hatte. Der Sauerstoff erreichte die Lunge des Mannes nicht.
»Wir müssen ihn intubieren, sonst verlieren wir ihn.« Monica holte
das Laryngoskop aus dem Ärztekoffer und stellte sich hinter den Kopf des
Patienten. Plötzlich sah sie in Tonys Augen etwas aufblitzen, das sie sich
nicht erklären konnte. Tony war ein abgeklärter Profi, und trotzdem hatte ihn
etwas zutiefst erschüttert. Etwas, das sich direkt hinter ihr befand.
Im Krankenhaus kannte jeder die Geschichte der jungen Ärztin und
ihrer Schwester. Es hatte sie zwar noch nie jemand darauf angesprochen, aber
sie sah sie durchaus: die mitleidigen, nervösen Blicke der Kollegen, die sich
insgeheim fragten, wie man mit so einer Last weiterleben kann.
Genau diesen Gesichtsausdruck hatte der Pfleger jetzt, nur viel
extremer. Deshalb drehte sich Monica
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