Der Seelensammler
auf meine
Frage finden, die ich mir nach meinem Gedächtnisverlust gestellt habe.« Er
berührt die Narbe an seiner Schläfe. »Und die lautete: Wenn es tatsächlich
stimmt, dass ich Priester bin – wo ist dann mein Glaube geblieben?«
»Und welche Antwort hast du gefunden?«
»Dass er einem nicht einfach so geschenkt wird, sondern dass man ihn
immer wieder neu suchen muss.« Er sah zu Boden. »Und ich suche ihn im Bösen.«
»Es ist schon ein seltsames Schicksal, das uns zusammengeführt hat:
Du musst mit deinen Gedächtnislücken leben und ich mit meinen erdrückend vielen
Erinnerungen an David. Ich kann nicht vergessen, und du wurdest gezwungen,
alles zu vergessen.« Sie sieht ihn schweigend an. »Und, wirst du jetzt
weitermachen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber wenn du mich fragst, ob ich Angst
habe, eines Tages ebenfalls vom Bösen korrumpiert zu werden, kann ich das nur
bejahen. Anfangs dachte ich, es wäre ein Fluch, die Welt mit den Augen des
Bösen wahrzunehmen. Aber als ich Lara fand, ergab meine Begabung plötzlich
einen Sinn. Ich weiß zwar nicht mehr, wer ich war, aber dank meiner Arbeit weiß
ich endlich, wer ich bin.«
Sandra nickt, hat aber ein schlechtes Gewissen. »Ich muss dir etwas
gestehen.« Sie schweigt, sucht nach den richtigen Worten. »Es gibt da einen
Mann, der nach dir sucht. Ich dachte, dass er das Archiv finden will, aber
nachdem ich das hier gesehen habe, habe ich begriffen, dass es ihm um etwas
anderes geht.«
Marcus reagiert beunruhigt. »Warum?«
»Keine Ahnung. Er hat auch mich angelogen, sich als Interpolbeamter
ausgegeben, obwohl das gar nicht stimmt. Ich weiß nicht, wer er wirklich ist,
halte ihn aber für äußerst gefährlich.«
»Er wird es nicht schaffen, mich zu finden.«
»Oh, doch! Er besitzt ein Foto von dir.«
Marcus denkt nach. »Und selbst wenn: Was kann er mir schon tun?«
»Er wird dich umbringen.«
Sandras Ankündigung lässt ihn ungerührt. »Woher willst du das
wissen?«
»Wenn er kein Polizist ist und dich nicht verhaften will, bleibt nur
noch das übrig.«
Marcus lächelt. »Ich bin schon einmal gestorben, das macht mir keine
Angst mehr.«
Sandra nimmt ihm seine Gelassenheit ab, sie flößt ihr Vertrauen ein.
Ihr fällt seine zärtliche Geste im Krankenhaus wieder ein, wie sehr sie ihr
gutgetan hat. »Ich habe eine Sünde begangen und kann sie mir einfach nicht
verzeihen.«
»Es gibt für alles Vergebung, sogar für Todsünden. Doch es genügt
nicht, sie nur zu erbitten. Man muss seine Schuld beichten: Spricht man sie laut
aus, ist man schon halb davon befreit.«
Nach diesen Worten des Priesters senkt Sandra den Kopf, schließt die
Augen und beginnt ihr Herz zu öffnen. Sie erzählt ihm von der Abtreibung, von
ihrer verlorenen und wiedergefundenen Liebe. Davon, wie sie sich selbst
bestraft hat. Das Ganze kommt ihr völlig selbstverständlich vor, die Worte
strömen nur so aus ihr heraus. Sie hat geglaubt, dass es sich so anfühlte, als
fiele eine schwere Last von ihr ab. Doch es ist ganz anders: Die Leerstelle,
die das nie geborene Kind hinterlasen hat, schließt sich. Die Wunden der
letzten Monate verheilen. Sie spürt, dass sie sich verändert hat, ein neuer
Mensch geworden ist.
»Auch ich trage eine schwere Schuld mit mir herum«, sagt Marcus
schließlich. »Auch ich habe jemandem das Leben genommen. Aber macht uns das
schon zu Mördern? Manchmal tötet man, weil man keinen anderen Ausweg weiß. Weil
man jemanden schützen will oder Angst empfindet. In solchen Fällen gilt ein
anderer Gerechtigkeitsmaßstab.«
Sandra fühlt sich von seinen Worten getröstet.
»1314 wütete die Pest in der südfranzösischen Ardèche und raffte die
Menschen nur so dahin. Eine Räuberbande nutzte die Epidemie aus und säte Furcht
und Schrecken, indem sie mordend, vergewaltigend und brandschatzend durch die Gegend
zog. Die Menschen waren verängstigt und mit dem nackten Überleben beschäftigt.
Da taten sich einige wehrlose, unerfahrene Bergpriester zusammen und traten den
Banditen entgegen. Sie griffen zu den Waffen und kämpften. Am Ende trugen sie
den Sieg davon. Sie waren Gottesmänner und hatten Blut vergossen: Wer sollte
ihnen das jemals vergeben? Als sie zu ihren Gemeinden zurückkehrten, wurden sie
von der Bevölkerung als Helden gefeiert. Sie hatten es geschafft, das Verbrechen
aus der Ardèche zu verbannen. Seitdem nennen die Menschen solche Priester Jäger der Finsternis .« Marcus nimmt eine Kerze, entzündet
sie mit einem Streichholz und
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