Der Seelensammler
kurz um und sah, was Tony gesehen hatte.
In der Zimmerecke lag einsam und allein ein
Rollschuh, der direkt aus der Hölle zu kommen schien.
Ein roter Rollschuh mit goldenen Schnallen, der genauso aussah wie
sein Gegenstück, das nicht hierher, sondern in ein anderes Haus, in ein anderes
Leben gehörte. Monica hatte die Rollschuhe immer ein bisschen kitschig
gefunden, aber Teresa meinte, sie seien retro. Teresa war ihr Gegenstück, ihre Zwillingsschwester. Und so kam es, dass Monica glaubte,
sich selbst zu sehen, als Teresas Leiche eines kalten Dezembermorgens in den
Flussauen gefunden wurde.
Teresa war gerade mal einundzwanzig gewesen, als sie erwürgt worden
war.
Angeblich wissen Zwillinge immer, was gerade im anderen vorgeht,
auch über viele Kilometer hinweg. Doch Monica konnte das nicht bestätigen. Sie
hatte keinerlei Angst oder Gefahr verspürt, als Teresa eines Sonntagnachmittags
nach einem Rollschuhausflug mit Freundinnen entführt worden war. Erst einen
Monat später war ihre Leiche aufgetaucht, und zwar mit den Kleidern am Leib,
mit denen Teresa verschwunden war.
Ein roter Rollschuh hatte noch an ihrem Fuß gesteckt und ausgesehen
wie eine groteske Prothese.
Seit sechs Jahren bewahrte Monica ihn nun schon auf und fragte sich,
wo der andere geblieben war – ja, ob die beiden Rollschuhe jemals wieder
zusammenfinden würden. Immer wieder versuchte sie, sich das Gesicht desjenigen
vorzustellen, der ihn behalten hatte. Immer wieder glaubte sie, es in dem eines
fremden Passanten zu erkennen. Mit der Zeit war eine Art Spiel daraus geworden.
Und jetzt war Monica vielleicht mit der Antwort auf all ihre Fragen
konfrontiert.
Sie betrachtete den Mann zu ihren Füßen. Seine rissigen, feisten
Hände, seine Nasenhaare, den Urinfleck im Schritt. Er sah so gar nicht aus wie
das Monster, das sie sich vorgestellt hatte. Stattdessen wirkte er völlig
banal. Wie ein ganz normaler Mensch, dazu noch einer mit einem schwachen
Herzen.
Tony riss sie aus ihren Gedanken. »Ich ahne, was gerade in dir
vorgeht«, sagte er. »Wir können die Maßnahmen auch einstellen und den Dingen
einfach ihren Lauf lassen. Du brauchst es mir nur zu sagen. Niemand wird je
davon erfahren.«
Es war sein Vorschlag gewesen – vielleicht, weil ihm nicht entgangen
war, wie ihre Hand mit dem Laryngoskop kurz vor dem röchelnden Mund gezögert
hatte.
Noch einmal warf Monica einen Blick auf den Brustkorb des Mannes.
Töte mich.
Vielleicht war es das Letzte, was ihre Schwester gesehen hatte, als
ihr die Kehle durchgeschnitten worden war. Nicht gerade ein Wort des Trostes,
das eigentlich jedem zusteht, der diese Welt verlässt. Ihr Mörder hatte sich
über sie lustig gemacht, ja, seine Lust damit noch gesteigert. Aber vielleicht
hatte sich Teresa den Tod auch herbeigesehnt, um nicht länger leiden zu müssen.
Vor Wut umklammerte Monica das Laryngoskop so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Töte mich.
Dieser Schuft hatte sich die beiden Worte aufs Brustbein tätowieren
lassen, aber als es ihm selbst dreckig ging, hatte er den Krankenwagen gerufen.
Auch er hatte Angst vor dem Tod.
Monica dachte nach. Alle, die Teresa gekannt hatten, sahen in ihr,
der Schwester, nur eine täuschend echte Kopie, eine Wachskabinettfigur, die
Nachbildung einer Verstorbenen. Für ihre Angehörigen war sie das, was ihre
Schwester nie sein durfte. Sie konnten sehen, wie sie sich weiterentwickelte,
suchten in ihr nach Teresa. Jetzt hatte Monica endlich die Chance, sich von ihr
abzuheben, sich vom Gespenst ihrer Zwillingsschwester zu befreien. Ich bin
Ärztin!, ermahnte sie sich. Gern hätte sie einen Hauch von Mitleid für den
Menschen vor ihr empfunden oder wenigstens Ehrfurcht vor einer höheren
Gerechtigkeit – etwas, woran sie sich orientieren konnte. Stattdessen spürte
sie rein gar nichts. Also bemühte sie sich, irgendwie daran zu zweifeln, dass
dieser Mann etwas mit Teresas Tod zu tun hatte. Aber sosehr sie sich auch
anstrengte – es gab nur eine Erklärung, warum dieser Rollschuh hier war.
Töte mich.
Und in diesem Moment begriff Monica, dass ihre Entscheidung längst
gefallen war.
6 Uhr 19
In Rom herrschte tristes Regenwetter. Lange Schatten umhüllten
die Gebäude der Altstadt: ein Defilee stummer, tränenbenetzter Fassaden. Die
Gassen, die sich wie Eingeweide um die Piazza Navona herumwanden, lagen wie
ausgestorben da. Aber nur wenige Schritte vom Bramante-Tempel entfernt spiegelten
sich die Fenster des alten Caffè della Pace im nassen
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