Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
waren aus seiner Sicht eine eingeschworene Gemeinschaft, laut, derb und kraftvoll, wie ihre Spiele.
Jon fürchtete sich manchmal vor den anderen. Er war in Husum aufgewachsen, der Stadt mit den düsteren roten Häusern, dem tosenden Meer, dem wilden Himmel. Dort schon hatte er sich immer, wenn die Eltern ihrer Arbeit nachgingen, in die Stille seines Zimmers zurückgezogen, gelesen, gegrübelt, geträumt. Er war ein Einzelgänger, hatte seine eigene Welt. Das mochte auch etwas mit seiner stets prekären Gesundheit zu tun haben: Solange er sich erinnern konnte, war er nie ganz gesund gewesen. Kränklich. Immer erkältet. Ein schwaches Herz.
Und dann noch dieses Unglück: Für ihn war es ein Schock gewesen, als sein Vater entschied, daß sie nach Luisendorf ziehen würden. Aber er war alt genug, zu verstehen, daß dieser Umzug notwendig war, damit sie eine Familie bleiben konnten. Es war kein beruflicher Fortschritt für seinen Vater gewesen, im Gegenteil, sondern eine Art Flucht, ein Ausweg, der einzige, den es noch gab, um die Ehe zu retten.
Jons Mutter hatte eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann gehabt. Mit einem «Dichter», wie der Vater in den täglichen Streitereien, die dem Umzug vorausgingen, höhnte. Erst wollte sie allein fortgehen, dann hatte sie die Beziehung zu dem Dichter beendet, aber danach hatte alles wieder von vorn angefangen.
In dieser Zeit hatte sich nicht nur das Verhältnis der Eltern untereinander, sondern auch das zu ihrem Sohn grundlegend verändert. Während die Mutter Jon auf einmal mit Geschenken und anderen Liebesbezeigungen überhäufte, gleichzeitig aber alles andere vernachlässigte, übernahm der Vater die Arbeiten zu Hause und verwendete seine Freizeit auf die strenge Erziehung des Sohnes.
Jede freie Stunde, die er mit Isabelle verbringen wollte, mußte er sich erbetteln. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Aufgaben zu bewältigen. Einkaufen, sein Zimmer aufräumen, den Tisch decken, abtrocknen, das Fahrrad putzen. Den Rasen hinter dem Haus mähen, der eher eine Wiese war, groß und wuchernd, mit dem klappernden, scheppernden, rasselnden Handrasenmäher! Wie oft saß Jon sogar an Samstagen und Sonntagen hinter seinem Schultisch und lernte unter Aufsicht seines Vaters. Vom kleinen Platz vor der Schule, in dessen Mitte sich ein Kastanienbaum schattenspendend ausbreitete, drang das Lachen, Kreischen und Toben der Kinder, die hier auch außerhalb der Schulzeit spielen durften, in das Klassenzimmer. Jon mußte seine Hände flach auf die Tischplatte legen und englische Vokabeln aufsagen. Sein Vater stand daneben und schlug ihm mit einem dreißig Zentimeter langen Holzlineal im Takt der Silben auf den Handrücken, mal sanfter, mal stärker.
«Fa...ther, mo-ther, bro-ther, si-s ... si-s ...»
«Nun?»
«Sis-ster.»
Das Schlimmste war, daß Jon stotterte, wenn er aufgeregt war. Sein Vater versuchte es ihm abzugewöhnen. Die Dorfkinder verspotteten Jon, was das Stottern noch verstärkte. Nur Isabelle schien es nicht zu stören. Sie machte nie eine Bemerkung darüber. Bei ihr, die ihm so freundlich, offen und unkompliziert gegenübertrat, fühlte er sich aufgehoben und sicher genug, ganz und gar frei zu sprechen.
Sie war im vergangenen Jahr, als er seinen ersten Schultag in Luisendorf hatte, ein wenig verspätet und als letzte in den Klassenraum gekommen, hatte sich kurz entschuldigt und vorgestellt und dann neben ihn gesetzt, ihm die Hand zur Begrüßung hingestreckt und ihn angestrahlt, so herzlich, daß Jon sofort spürte: Wir werden Freunde. Und so kam es dann auch.
Seither waren sie jeden Tag zusammengewesen. Sie stauten mit Feldsteinen und Kieseln Bäche, bauten damit kleine Seen und Wasserfälle und glaubten in ihrer Phantasie, in einer exotischen, fernen Landschaft zu leben und Abenteuer zu bestehen. Sie pflückten blühenden Löwenzahn, schnitten mit Jons Fahrtenmesser die Stiele am Ende kreuzweise auf und hielten sie so lange ins Wasser, bis sie sich auf wunderbare Weise und wie von Zauberhand gelenkt aufrollten. Sie machten Fahrradwettrennen, unternahmen Ausflüge, klauten Maiskolben und durchstreiften die wogenden Kornfelder, die sich dadurch in geheimnisvolle Irrgärten verwandelten.
Im Herbst, nach der Ernte, bauten sie sich aus Strohballen Hütten, in denen sie sich versteckt hielten, bis es dunkel wurde und kalt und unheimlich. Gemeinsam mit anderen Kindern veranstalteten sie Stoppelschlachten, bei denen Isabelle so heftig mit dem herausgerissenen Wurzelwerk um
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