Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Isabelle darauf, ihrem Großvater – dem Vater ihres Vaters – vorzuschlagen, ihm auch zum Mittagsschlaf das Bett anzuwärmen, und das nicht nur im Winter, sondern auch in den Sommermonaten. Er willigte ein. Sie ließ sich von ihrem Großvater eine leere Zigarrenkiste schenken und machte daraus ihre Kasse, die sie im Nachttisch versteckte. Von Zeit zu Zeit zählte sie ihren Schatz: Er mehrte sich durch Pfandgeld für leere Bierflaschen, die sie in der Nachbarschaft sammelte, durch Aushilfen in der Bäckerei Voss, durch Botendienste, für die sich Isabelle im Dorf anbot. Niemand wußte, daß sie Erspartes besaß, außer Jon. Ihm erzählte sie alles. Auch, daß sie das Geld dafür nutzen wollte, einmal ein eigenes Geschäft zu eröffnen, ganz gleich was für eines, und daß es ihr Ziel war, einmal berühmt zu werden.
Jon war Isabelles Vertrauter. Er war für sie der wichtigste Mensch auf der Welt, sie war froh, daß er ihr Freund war, sie träumte sogar von ihm. Sie träumte, daß er sie küßte. Jon war ganz anders als alle anderen Kinder, so ruhig und klug; er redete beinahe so wenig wie ihr Großvater, aber was er sagte, war immer genau das richtige. Auf alle Fragen wußte er eine Antwort, oder wenigstens wußte er, wie man eine Antwort bekam: Jon hatte tolle Bücher, über die Welt der Tiere, die Welt des Mittelalters, über die Sagenwelt, das alte Ägypten ebenso wie über das England des vergangenen Jahrhunderts, in dem ihre größten Helden lebten, David Copperfield und Oliver Twist. Jon besaß die beiden Dickens-Romane in wundervollen illustrierten Ausgaben; gemeinsam betrachteten sie die Zeichnungen, die ihnen wie ein Abbild des wirklichen Lebens erschienen. Manchmal las er ihr daraus vor, und sie fühlten sich dann wie die Romanfiguren.
«Nun geh rauf!» befahl ihre Mutter.
Während sie in der Küche verschwand, ging Isabelle die Treppe hoch. Sie hielt sich, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, zwei Stufen auf einmal hinauf- oder hinunterzustürmen, am Geländer fest, so, wie ihr Großvater es immer getan hatte. Ihr fiel plötzlich auf, wie laut die Eichenstanduhr in der Diele tickte, und sie blieb kurz stehen und drehte sich erstaunt um. Dann gab sie sich einen Ruck, nahm die letzten Stufen und öffnete die Tür zum Schlafzimmer der Eltern.
Ihr Vater lag, die Augen geschlossen, in der linken Hälfte des frisch bezogenen Ehebettes. Die andere Hälfte war abgedeckt, denn seitdem er so krank war, hatte er darauf bestanden, daß seine Frau im benachbarten Zimmer, der Großvaterkammer, wie sie den Raum nannten, schlief.
Er sah schmal aus, bleich und alt. Isabelle war immer bewußt gewesen, daß ihr Vater erheblich älter war als die Väter ihrer Freundinnen und Klassenkameradinnen, aber wie er jetzt so dalag, kam er ihr wie ein Greis vor. Er litt an Leukämie. Sie schloß leise die Tür und kam auf Samtschritten heran.
Ihr Vater öffnete die Augen: «Kind! Ich hab schon auf dich gewartet. Komm, setz dich zu mir.» Er zog seinen Arm unter der Bettdecke hervor und klopfte sanft auf den Platz neben sich.
«Papa», sagte Isabelle. «Papa!» Sie umarmte ihn.
«Sei nicht traurig.» Er schob ihren Kopf sanft von sich, umfaßte ihr Gesicht mit den Händen und schob es hoch, so daß er sie ansehen konnte. «Ich habe nicht mehr lange Zeit ...», fuhr er fort und rang nach Luft. «Ich werde sterben ...»
«Nein, Papa!»
«Doch.»
«Aber Doktor Eggers kommt gleich. Mama sagt ...»
«Wir haben uns doch nie gegenseitig etwas vorgemacht, hm?»
«Nein.»
«Ich hab dich sehr lieb, Isabelle. Und ich möchte, daß du weißt, daß ich immer bei dir sein werde, auch wenn ... wenn ...» Er schwieg eine Weile, drehte seinen Kopf zur Seite und blickte aus dem Gaubenfenster hinaus. «Ich habe ein bißchen Angst, weißt du ...», fuhr er fort, «du bist erst dreizehn, aber ich finde, du bist alt genug, daß wir darüber reden, nicht wahr?»
Isabelle wußte nicht, was sie antworten sollte.
«Vor dem, was da kommt», fuhr er fort. «Aber der liebe Gott wird mich schon aufnehmen, was?»
Seine Tochter nickte.
«Ich hab auch Angst um deine Mutter. Um dich nicht. Nein.» Er lächelte. «Du bist mine seute Deern ...»
«Papa ... ich hab dich auch so lieb ...»
«Du mußt wirklich nicht traurig sein. Ich habe ein gutes Leben gehabt, alles, was ich wollte ... viel erlebt, so eine kluge Tochter, unser schönes Zuhause ... Du mußt nun auf das alles mit aufpassen, Isa. Du wirst das schon machen, deiner Mutter zur Seite stehen,
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