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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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wie sie klingt, und wir haben schon erwogen, dich um eine Projektion zu bitten. Aber ein nationales Gesetz? Quinn hat in Angelegenheiten nationaler Politik nicht viel von sich gegeben.«
    »Noch nicht.«
    »Noch nicht, stimmt. Vielleicht ist es an der Zeit. Vielleicht hat Carvajal hier etwas gerochen. Und die dritte Zeile…«
    »Leydecker«, sagte ich. Gewiß war damit Gouverneur Richard Leydecker von Kalifornien gemeint, einer der mächtigsten Männer der Neuen Demokratischen Partei und der frühe Spitzenanwärter auf die Präsidentschaftsnominierung im Jahre 2000. »Socorro ist Spanisch für >Hilfe<, nicht wahr, Bob? Helft Leydecker, der keine Hilfe braucht? Warum? Außerdem, wie könnte Paul Quinn Leydecker schon helfen? Abgesehen davon, daß er sich Leydeckers Wohlwollen gewinnt, sehe ich nicht, was Quinn davon hätte, und es kann auch Leydecker kaum etwas geben, das er nicht schon sicher in der Tasche hätte; also…«
    »Socorro ist Vizegouverneur von Kalifornien«, sagte Lombroso sanft. »Carlos Socorro. Es ist der Name eines Mannes, Lew.«
    »Carlos Socorro.« Ich schloß die Augen. »Natürlich.« Meine Wangen brannten. All mein Listenmachen, das ganze verrückte Zusammengestelle von Machtzentren in der Neuen Demokratischen Partei, das ganze schweißtriefende Gekritzel der letzten anderthalb Jahre – und es gelang mir trotzdem, Leydeckers designierten Nachfolger zu vergessen. Nicht socorro, sondern Socorro, Idiot! Ich sagte: »Worauf will er dann hinaus? Daß Leydecker zurücktreten wird, um sich die Nominierung zu holen, und daß Socorro Gouverneur wird? Okay, das macht Sinn. Aber: Macht euch frühzeitig an ihn heran? An wen?« Ich stockte. »Socorro? Leydecker? Alles ein trübes Mischmasch. Ich kriege keine sinnvolle Auslegung.«
    »Wie legst du Carvajal aus?«
    »Ein Spinner«, sagte ich. »Ein reicher Spinner. Ein verschrobener kleiner Kerl, mit einem schweren Politik-Tumor im Hirn.« Ich steckte den Zettel in meine Brieftasche. Das Blut pochte in meinem Kopf. »Vergiß es. Ich habe ihn geduldig ertragen, weil du das wolltest. Ich war heute ein sehr braver Junge, nicht wahr, Bob? Aber man kann nicht von mir verlangen, etwas von diesem Zeug ernst zu nehmen, und ich weigere mich, es zu versuchen. Komm, gehen wir Mittagessen. Ich würde gern etwas gutes Bone rauchen und ein paar schöne, leuchtende Martinis schlürfen und vernünftig reden…« Lombroso lächelte sein strahlendstes Lächeln, klopfte mir tröstend auf die Schulter und führte mich aus dem Büro. Ich verbannte Carvajal aus meinem Bewußtsein. Aber ich empfand ein Frösteln, als wäre ich in eine neue Jahreszeit eingetreten, und diese Jahreszeit war nicht Frühling, und das Frösteln war noch bei mir, als das Mittagessen schon lange vorüber war.
     
12
    In den nächsten Wochen machten wir uns ernsthaft an die Aufgabe, Paul Quinns – und unseren – Aufstieg ins Weiße Haus zu planen. Ich mußte meinen Wunsch, mein Verlangen, ihn zum Präsidenten zu machen, nicht mehr verheimlichen; inzwischen bekannte sich jeder im inneren Kreis offen zu derselben Leidenschaft, die mir so peinlich gewesen war, als ich sie vor anderthalb Jahren zum ersten Mal verspürte. Wir hatten alle mit dem Versteckspiel aufgehört.
    An der Art und Weise, wie Präsidenten gemacht werden, hat sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht viel geändert, obwohl die Techniken in unserer Zeit der Datennetze, stochastischen Prognosen und medienintensiven Ego-Sättigung ein bißchen anders sind. Der Anfang von allem ist natürlich ein starker Kandidat, vorzugsweise einer mit einer Machtbasis in einem dicht besiedelten Staat. Ihren Mann muß man sich als Präsident vorstellen können; er muß aussehen und sich anhören wie ein Präsident. Wenn das nicht seine natürliche Gabe ist, muß er darin trainiert werden, eine präsidentenhafte Aura um sich herum zu erschaffen. Die besten Kandidaten waren von Natur aus damit ausgestattet. McKinley, Lyndon Johnson, FDR und Wilson hatten alle dieses dramatische präsidentenhafte Aussehen. Harding auch. Niemand sah jemals mehr nach einem Präsidenten aus als Harding; das war seine einzige Empfehlung für den Job, aber sie genügte. Dewey, AI Smith, McGovern und Humphrey hatten diese Qualifikationen nicht, und sie verloren. Stevenson und Wilkie hatten sie, waren aber gegen Männer angetreten, die mehr davon hatten. John F. Kennedy sah nicht so aus, wie es das 1960er Ideal von einem Präsidenten verlangte – weise, väterlich –,

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