Der Seher
Lombroso, hilflos nach mir zu sehen. Aber ich war ratlos. Ich sagte: »Ich glaube, wir können Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Carvajal.«
»Dürfte ich dann einen Augenblick mit Ihnen allein sprechen?«
Ich spähte zu Lombroso hinüber. Wenn es ihn ärgerte, seines eigenen Büros verwiesen zu werden, so war es ihm nicht anzumerken. Mit der für ihn charakteristischen Anmut verbeugte er sich und schritt in das Hinterzimmer. Wieder war ich mit Carvajal allein, und wieder fühlte ich mich unbehaglich, drangsaliert von den eigenartigen Fäden unverletzbaren Stahls, die seine welke und schwache Seele zu umschnüren schienen. In einem neuen, schmeichlerischen, zutraulichen Ton sagte Carvajal: »Wie gesagt, Sie und ich arbeiten in derselben Branche. Allerdings meine ich, daß unsere Methoden ziemlich verschieden sind, Mr. Nichols. Sie arbeiten intuitiv und mit der Wahrscheinlichkeitstheorie, und ich – nun, ich arbeite anders. Was ich sagen will, ist dies: Ich glaube, einige meiner Einsichten könnten vielleicht Ihre ergänzen.«
»Prognostische Einsichten?«
»Genau. Ich möchte mich nicht in Ihre Zuständigkeiten einmischen. Aber ich wäre vielleicht in der Lage, ein paar Hinweise zu geben, die, wie ich glaube, wertvoll sein könnten.«
Eine Erkenntnis durchzuckte mich. Plötzlich war das Geheimnis gelüftet, und was sich enthüllte, war enttäuschend banal. Carvajal war nichts als ein reicher Polit-Amateur, der in dem Wahn, sein Geld qualifiziere ihn zum Universalexperten, danach gierte, bei den Profis mitzumischen. Ein Steckenpferdreiter. Ein Armstuhl-Politiker. O Gott! Nun, streich ihm um den Bart, hatte Lombroso gesagt. Ich würde streichen. Nach Takt suchend, sagte ich steif: »Selbstverständlich. Mr. Quinn und sein Stab sind für nützliche Hinweise immer dankbar.«
Carvajals Augen suchten die meinen, aber ich mied sie. »Ich danke Ihnen«, flüsterte er. »Fürs erste habe ich ein paar Dinge hier aufgeschrieben.« Er reichte mir ein zusammengefaltetes Stück weißes Papier. Seine Hand zitterte ein wenig. Ohne es mir anzusehen, nahm ich das Papier. Plötzlich schien ihn alle Kraft zu verlassen, als hätte er seinen letzten Vorrat erschöpft. Sein Gesicht wurde grau, seine Gelenke gaben sichtbar nach.
»Danke«, murmelte er noch einmal. »Ich danke Ihnen vielmals. Ich glaube, wir werden uns bald wiedersehen.« Und er verschwand. Buckelte sich aus der Tür wie ein japanischer Gesandter.
Man trifft in diesem Geschäft die sonderbarsten Typen. Kopfschüttelnd öffnete ich den Zettel. In spinnwebartiger Handschrift waren darauf drei Zeilen zu lesen:
1. Haltet Gilmartin im Auge.
2. Nationales Gesetz für Ölgelierung – macht euch bald dafür stark.
3. Noch vor Sommer Socorro für Leydecker. Macht euch frühzeitig an ihn ran.
Ich las zweimal, kapierte nichts, wartete auf den vertrauten erhellenden Sprung der Intuition; auch der blieb aus. Etwas war an diesem Carvajal, das meine Fähigkeiten vollständig abblitzen zulassen schien. Dieses geisterhafte Lächeln, diese ausgebrannten Augen, diese dunklen Zeilen – alles an ihm verwirrte und verstörte mich. »Er ist weg«, rief ich, und Lombroso kam sofort aus seinem Hinterzimmer.
»Und?«
»Ich weiß nicht. Ich habe absolut keine Ahnung. Das hat er mir gegeben«, sagte ich und reichte ihm den Zettel.
»Gilmartin. Gelierung. Leydecker.« Lombroso runzelte die Stirn. »Also dann, Zaubermeister. Was bedeutet das?«
Gilmartin, das mußte der Chef des Rechnungshofes des Staates New York, Anthony Gilmartin, sein, der wegen der städtischen Finanzpolitik schon einige Male mit Quinn zusammengestoßen, seit Monaten aber nicht mehr in den Nachrichten erschienen war. »Carvajal glaubt, es steht Ärger mit Albany in Geldsachen bevor«, riskierte ich eine Deutung. »Aber darüber müßtest du mehr wissen als ich. Beklagt sich Gilmartin mal wieder über die Ausgaben der Stadt?«
»Mit keinem Wort.«
»Bereiten wir ein neues Steuerpaket vor, das ihm nicht behagen wird?«
»Das hätten wir dir doch längst gesagt, Lew.«
»Es bahnen sich also keine Konflikte zwischen Quinn und der Finanzaufsicht an?«
»In absehbarer Zukunft sehe ich keine«, sagte Lombroso. »Siehst du welche?«
»Nein. Was die Pflicht zur Ölgelierung angeht…«
»Wir haben daran gedacht, ein strenges örtliches Gesetz durchzuziehen«, sagte er. »Kein Tanker soll mehr im New Yorker Hafen anlegen dürfen, der ungeliertes Öl transportiert. Quinn hat seine Zweifel, ob die Idee wirklich so gut ist,
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