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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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er von mir?«
    »Das ist alles, was ich weiß, Lew.«
    »Soll denn meine Zeit jedem zur Verfügung stehen, der mal fünf Kröten für Quinns Wahlkampf gegeben hat?«
    Lombroso seufzte. »Wenn ich dir sagen würde, wie viel Carvajal gegeben hat, würdest du es nicht glauben; und auf jeden Fall, ja, ich glaube, du solltest dir etwas Zeit für ihn nehmen.«
    »Aber…«
    »Schau her, Lew, wenn du mehr wissen willst, mußt du Carvajal fragen. Geh jetzt bitte zu ihm zurück. Sei ein Schatz und laß mich mit dem Bürgermeister reden. Geh nur. Carvajal wird dir nicht weh tun. Er ist doch nur ein kümmerliches Kerlchen.« Lombroso wandte sich von mir ab und setzte das Telefon wieder in Betrieb. Das Bild des Bürgermeisters kehrte auf den Schirm zurück. Lombroso sagte: »Entschuldige, Paul. Lew hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch, aber ich glaube, er wird sich fassen. Also…«
    Ich ging zu Carvajal zurück. Er saß reglos, mit gesenktem Kopf und schlaffen Armen, wie wenn ein eisiger Windstoß während meiner Abwesenheit durch den Raum gefahren wäre und ihn verwelkt und erstarrt zurückgelassen hätte. Langsam und mit offensichtlicher Mühe sammelte er sich wieder, setzte sich aufrecht, füllte seine Lungen und gab eine Lebendigkeit vor, die seine Augen, seine leeren und beängstigenden Augen Lügen straften. Ein wandelnder Toter, jawohl.
    »Werden Sie mit uns zu Mittag essen?« fragte ich ihn.
    »Nein, nein, ich will mich nicht aufdrängen. Ich wollte nur einmal mit Ihnen reden, Mr. Nichols.«
    »Ich stehe zu Ihren Diensten.«
    »Tatsächlich? Wie wunderbar.« Er lächelte ein ausgebranntes Lächeln. »Ich habe viel von Ihnen gehört, wissen Sie. Schon bevor Sie in die Politik gingen. In gewisser Weise haben wir beide in derselben Branche gearbeitet.«
    »Sie meinen die Börse?« fragte ich verwirrt.
    Sein Lächeln wurde heller und beunruhigender. »Voraussagen«, sagte er. »In meinem Fall, die Börse. In Ihrem, Beratung für Wirtschaft und Politik. Beide haben wir uns mit unserem Köpfchen und unserem… ah… unserem hinlänglichen Verständnis von Trends einen Lebensunterhalt geschaffen.«
    Ich war vollkommen unfähig, ihn zu entziffern. Er war undurchsichtig, ein Geheimnis, ein Rätsel.
    Er sagte: »Und Sie stehen nun also hinter dem Bürgermeister und sagen ihm, in welchem Zustand die Straße vor ihm ist. Ich bewundere Menschen, die eine so klare Sicht haben. Bitte, sagen Sie mir, was für eine Laufbahn sehen Sie für Bürgermeister Quinn voraus?«
    »Eine glänzende«, sagte ich.
    »Ein erfolgreicher Bürgermeister also.«
    »Er wird einer der besten sein, die diese Stadt je gehabt hat.«
    Lombroso kam zu uns zurück. Carvajal sagte: »Und danach?«
    Verunsichert blickte ich zu Lombroso hinüber, dessen Augen aber gesenkt waren. Ich war auf mich selbst gestellt.
    »Nach seiner Amtszeit als Bürgermeister?« fragte ich.
    »Ja.«
    »Er ist noch jung, Mr. Carvajal. Gut möglich, daß er drei oder vier Amtszeiten als Bürgermeister vor sich hat. Für Ereignisse, die zwölf Jahre vor uns liegen, kann ich Ihnen keinerlei sinnvolle Prognosen geben.«
    »Zwölf Jahre im Rathaus? Glauben Sie, er wird es dort so lange aushalten?«
    Carvajal spielte mit mir. Mir war, als sei ich ahnungslos in eine Art Duell verwickelt worden. Ich sah ihn lange an und gewahrte in ihm etwas Schreckliches und Unbestimmbares, etwas Machtvolles und Unbegreifliches, das mich nach dem erstbesten Verteidigungszug greifen ließ, der mir in den Sinn kam. Ich sagte: »Was meinen Sie, Mr. Carvajal?«
    Zum ersten Mal glomm ein Funke von Leben in seine Augen auf. Er genoß das Spiel.
    »Daß Bürgermeister Quinn auf höhere Ämter zusteuert«, sagte er leise.
    »Gouverneur?«
    »Höher.«
    Ich antwortete nicht sofort, und dann konnte ich nicht antworten, denn ein gewaltiges Schweigen war aus den ledergetäfelten Wänden hervorgesickert und umhüllte uns, und ich fürchtete mich, es zu zerreißen. Wenn nur das Telefon klingeln würde, dachte ich, aber alles war still, so still, wie die Luft in einer Frostnacht, bis schließlich Lombroso uns mit den Worten rettete: »Ja, wir glauben auch, daß er große Möglichkeiten hat.«
    »Wir haben große Pläne für ihn«, platzte ich heraus.
    »Ich weiß«, sagte Carvajal. »Deshalb bin ich ja hier. Ich will meine Unterstützung anbieten.«
    Lombroso sagte: »Ihre finanzielle Hilfe hat uns bisher ungeheure Dienste geleistet, und…«
    »Was ich im Sinn habe, ist nicht nur finanzieller Natur.«
    Jetzt war es an

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