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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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aber hohler Politiker der Parteilinie, wäre der ideale Mann für die Rolle des Schurken, der den kühnen jungen Bürgermeister um die Nominierung brächte.
    Um jedoch einen einigermaßen ernst zu nehmenden Kampf gegen Kane zu eröffnen, würde Quinn Socorros Unterstützung brauchen. Quinn war für einen Großteil des Landes noch eine unbekannte Figur, Kane aber war in den Weiten des Mittleren Westens berühmt und beliebt. Eine Unterstützung von seilen Kaliforniens, womit er die Delegierten der zwei größten Staaten für sich hätte, wenn auch nicht viel mehr, würde Quinn einen anständigen Verliererkampf gegen Kane ermöglichen. Wir würden eine pietätvolle Pause verstreichen lassen, vielleicht eine Woche, und dann anfangen, Gouverneur Socorro Anträge zu machen. Aber Socorros unverzügliche Schützenhilfe für Kane änderte über Nacht alles und unterminierte Quinns Aussichten vollständig. Plötzlich reiste da Senator Kane an der Seite des neuen Gouverneurs durch Kalifornien und blökte volltönendes Lob für Socorros Regierungsfähigkeiten.
    Die Bescherung war da, und Quinn war weg vom Fenster. Eine Kane-Socorro-Liste war offensichtlich im Entstehen, wie eine Dampfwalze würden sie in den nächstjährigen Konvent hineinrollen und sich die Nominierung im ersten Wahlgang holen. Quinn würde nur donquichottisch und naiv oder – schlimmer – hinterhältig wirken, wenn er einen Kampf im Konvent suchte. Trotz Carvajals Hinweis hatten wir es versäumt, uns rechtzeitig an Socorro heranzumachen, und Quinn hatte eine Chance verloren, sich einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen. Damit hatten zwar Quinns Chancen für eine Präsidentschaft im Jahre 2004 keinen verhängnisvollen Schaden erlitten, aber unsere Langsamkeit war dennoch kostspielig gewesen.
    Oh, der Verdruß, die Schmach und Schande! Oh, die bittere Last, Nichols! Hier, sagt der sonderbare kleine Mann, hier ist ein Zettel, auf dem drei Stückchen Zukunft stehen. Handle nach Maßgabe deiner eigenen prophetischen Fähigkeiten. Schön sagst du, tausend Dank, und deine Fähigkeiten sagen dir gar nichts, und nichts tust du. Und die Zukunft rutscht dir über die Ohren und wird Gegenwart, und du siehst nur allzu deutlich, was du hättest tun sollen, und nun stehst du vor dir selber dumm da.
    Ich fühlte mich gedemütigt. Ich fühlte mich wertlos.
    Ich fühlte, daß ich eine Art Test nicht bestanden hatte.
    Ich brauchte Rat. Ich ging zu Carvajal.
     
16
    Hier lebt ein Millionär, der die Gabe des zweiten Gesichts besitzt? In einer kleinen, schmuddeligen Wohnung in einem neunzig Jahre alten, in Verfall geratenen Apartment-Haus unweit der Flatbush Avenue im tiefsten, gottverlassensten Brooklyn? Der Weg dorthin war ein Experiment in Tollkühnheit. Ich wußte – jeder, der mit der Stadtverwaltung zu tun hat, weiß da sehr schnell Bescheid –, welche Gebiete der Stadt als Niemandsland, als jenseits aller Hoffnung auf Erlösung, als außerhalb des Gesetzes stehend abgeschrieben worden waren. Dies war eine solche Gegend. Unter den Hüllen der Zeit und des Verfalls konnte ich noch das Skelett alter Ehrwürdigkeit erkennen; Juden der unteren Mittelklasse hatten einmal hier gewohnt, koschere Metzger und erfolglose Anwälte, danach dann Schwarze der unteren Mittelklasse, dann war ein Slum der Schwarzen daraus geworden, wahrscheinlich mit Enklaven von Puertorikanern, und nun war es schlicht ein Dschungel, ein zerfressenes Ödland abbröckelnder kleiner Zweifamilienhäuser aus roten Ziegeln und verrußter sechsstöckiger Apartment-Gebäude, in denen Penner, Süchtige, Schläger, Schläger der Schläger, streunende Katzen, Elefantenratten hausten – und Martin Carvajal. »Da wohnen Sie?« war mir herausgerutscht, als er, nachdem ich ihn um ein Treffen gebeten hatte, seine Wohnung dafür vorschlug. Ich nehme an, es war taktlos, so erstaunt darüber zu sein, wo er wohnte. Er erwiderte milde, daß mir nichts passieren würde. »Ich glaube, ich werde mir doch lieber Polizeischutz besorgen«, sagte ich, und er lachte und meinte, das sei der sicherste Weg, in Schwierigkeiten zu geraten, und wiederholte mit Nachdruck, ich solle keine Angst haben, mir drohe keine Gefahr, wenn ich allein käme.
    Die innere Stimme, deren Eingebungen ich immer befolge, sagte mir, ich solle Vertrauen haben, und so machte ich mich denn ohne Polizeieskorte, nicht aber ohne Furcht auf den Weg.
    Kein Taxi fährt in diesen Teil von Brooklyn, und die Hubschrauber bedienen solche Gegenden sowieso nicht. Aus

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