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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Weise bewahrte Carvajals Apartment die Atmosphäre des Amerikas der Jahrhundertmitte auf; es war wie eine Filmdekoration oder wie ein Historisches Zimmer im Smithsoman Museum.
    Mit geistesabwesender Gastfreundlichkeit wies es mir einen Platz auf dem verbeulten abgewetzten Wohnzimmersofa an und entschuldigte sich, daß er mir weder Drink noch Droge anbieten könne. Diesen Dingen fröne er nicht, erklärte er, und in dieser Gegend gäbe es sehr wenig zu kaufen. »Macht nichts«, sagte ich großartig. »Ein Glas Wasser reicht vollkommen.«
    Das Wasser war lauwarm und schwach rostig. Auch gut, sagte ich mir. Ich saß unnatürlich aufrecht, das Rückgrat steif, die Beine angespannt. Carvajal, der auf dem Kissen des Sessels zu meiner Rechten saß, bemerkte: »Sie scheinen sich nicht ganz wohl zu fühlen, Mr. Nichols.«
    »In einer Minute werde ich mich entspannt haben. Die Fahrt hierher…«
    »Natürlich.«
    »Aber niemand hat mich auf der Straße belästigt. Ich muß zugeben, daß ich Ärger erwartet habe, aber…«
    »Ich sagte doch, es würde nichts passieren.«
    »Trotzdem…«
    »Aber ich habe es Ihnen doch gesagt«, sagte er milde. »Haben Sie mir nicht geglaubt? Sie hätten mir glauben sollen, Mr. Nichols. Das wissen Sie.«
    »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte ich und dachte: Gilmartin, Gelierung, Leydecker. Carvajal bot mir mehr Wasser an. Ich lächelte mechanisch und schüttelte den Kopf. Ein klebriges Schweigen entstand. Nach einem Augenblick sagte ich: »Es ist merkwürdig, daß jemand wie Sie in so einer Gegend wohnt.«
    »Merkwürdig? Warum?«
    »Ein Mann mit Ihren Mitteln könnte überall in der Stadt leben.«
    »Ich weiß.«
    »Warum dann hier?«
    »Ich habe immer hier gelebt«, sagte er leise. »Das ist die einzige Heimat, die ich je gehabt habe. Diese Möbel haben meiner Mutter gehört und einige davon schon ihrer Mutter. Ich höre in diesen Räumen das Echo vertrauter Stimmen, Mr. Nichols. Ich spüre die lebendige Gegenwart der Vergangenheit. Ist das so merkwürdig, daß man bleibt, wo man immer gelebt hat?«
    »Aber die Gegend…«
    »Ist heruntergekommen, ja. In sechzig Jahren verändert sich vieles. Aber die Veränderungen sind für mich nicht wahrnehmbar gewesen, nicht in einem wesentlichen Ausmaß. Ein allmählicher Niedergang, Jahr um Jahr, dann vielleicht mal ein steilerer Niedergang, aber ich mache Zugeständnisse, ich passe mich an, ich gewöhne mich an das Neue und füge es in das ein, was immer gewesen ist. Und alles ist mir so wohlvertraut, Mr. Nichols – die Namen, die vor langer Zeit in den feuchten Zement geschrieben wurden, als das Pflaster noch neu war, der große Götterbaum im Schulhof, die verwitterten Fratzen über dem Eingang des Gebäudes gegenüber. Verstehen Sie, was ich meine? Warum sollte ich diese Dinge für eine schicke Wohnung auf Staten Island verlassen?«
    »Wegen der Gefahr, zum einen.«
    »Es gibt keine Gefahr. Nicht für mich. Für die Leute hier bin ich der kleine Mann, der schon immer hier gewesen ist, ein Symbol der Stabilität, die eine Konstante in einem Universum entropischer Veränderung. Für sie habe ich einen rituellen Wert. Ich bin vielleicht so eine Art Maskottchen. Jedenfalls hat niemand, der hier lebt, mich je belästigt. Und wird es auch in Zukunft nicht.«
    »Können Sie dessen sicher sein?«
    »Ja«, sagte er mit monolithischer Gewißheit und blickte mir direkt in die Augen; und ich empfand wieder jenes Frösteln, jenes Gefühl, am Rande eines unauslotbaren Abgrundes zu stehen. Ein weiteres langes Schweigen entstand. Kraft strömte von ihm aus – eine Macht, die in vollkommenem Gegensatz zu seiner farblosen Erscheinung stand, seiner sanften Art, seinem stumpfen, ausgebrannten Gesichtsausdruck –, und diese Kraft lähmte mich. Ich weiß nicht, wie lange ich so angefroren dasaß – es hätte eine Stunde sein können. Schließlich sagte er: »Sie wollten mir einige Fragen stellen, Mr. Nichols.«
    Ich nickte. Tief Atem holend, stürzte ich mich hinein. »Sie wußten, daß Leydecker dieses Frühjahr sterben würde, nicht wahr? Ich meine, Sie haben nicht einfach nur geraten, daß er sterben würde. Sie wußten es.«
    »Ja.« Das gleiche endgültige, unumstößliche Ja.
    »Sie wußten, daß Gilmartin in Schwierigkeiten geraten würde. Sie wußten, daß Öltanker ungeliertes Öl verlieren würden.«
    »Ja. Ja.«
    »Sie wissen, wie die Aktienkurse morgen und übermorgen steigen und fallen werden, und mit diesem Wissen haben Sie Millionen

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