Der Seher
wir den Dampfer im Gilmartin-Skandal, denn darum in der Tat handelte es sich – nicht um Exekution oder Attentat, sondern um Schande, Rücktritt, Gefängnis. Quinn hätte gewaltiges politisches Kapital daraus schlagen können, wenn es Ermittlungsbeamte der Stadt gewesen wären, die Gilmartins Machenschaften aufdeckten, wenn sich der Bürgermeister in gerechtem Zorn erhoben und gesagt hätte, die Stadt werde übers Ohr gehauen, und eine Untersuchung sei notwendig. Aber ich hatte die Zusammenhänge nicht gesehen, und es war ein Buchhalter des Staates, nicht einer von unseren Leuten, der die Geschichte schließlich an den Tag brachte – wie Gilmartin systematisch Millionen von Dollar aus Staatsfonds, die für New York gedacht waren, in die Kassen einiger kleiner Städte im Norden ableitete, und von dort in seine eigene Tasche und die einiger ländlicher Beamten. Zu spät erkannte ich, daß ich zwei Chancen gehabt hatte, Gilmartin zu Fall zu bringen, und beide hatte ich vertan. Einen Monat vor meinem Traum hatte mir Carvajal jenen mysteriösen Zettel gegeben. Behaltet Gilmartin im Auge, hatte er gemahnt. Gilmartin, Ölgelierung, Leydecker. Also?
»Erzähl mir, was du von Carvajal weißt«, bat ich Lombroso.
»Was willst du wissen?«
»Wie erfolgreich ist er wirklich an der Börse?«
»So erfolgreich, daß es schon unheimlich ist. Er hat neun oder zehn Millionen gemacht, von denen ich weiß, und das seit ‘93. Vielleicht viel mehr. Ich bin sicher, er arbeitet über verschiedene Maklerfirmen. Nummernkonten, Strohmänner, alle möglichen Tricks, um zu verbergen, wie viel er wirklich kassiert.«
»Er verdient alles durch Kauf und Verkauf?«
»Alles. Er steigt ein, reitet eine Aktie geradewegs nach oben, steigt aus. Ich hatte Leute in meinem Büro, die Vermögen nur damit machten, seinen Aktionen zu folgen.«
»Ist es möglich«, fragte ich, »daß jemand den Markt über so viele Jahre hinweg so beständig austrickst?«
Lombroso zuckte die Achseln. »Ein paar Leuten ist es gelungen. Wir haben unsere Legenden von großen Händlern bis zurück zu Ich-setz-’ne-Million-Gates. Niemand, den ich kenne, war so beständig wie Carvajal.«
»Hat er Insider-Informationen?«
»Kann er nicht haben. Nicht aus so vielen verschiedenen Firmen. Er kauft und verkauft einfach nur, kauft und verkauft und streicht seine Gewinne ein. Kam eines Tages an, eröffnete ein Konto, keine Bankreferenzen, keine Wall-Street-Verbindungen. Immer Bar-Umsätze. Gespenstisch.«
»Ja«, sagte ich.
»Ein ruhiger kleiner Mann. Sitzt und beobachtet das Band, gibt seine Order. Kein Theater, kein Geschwätz, keine Aufregung.«
»Irrt er sich je?«
»Er hatte einige Verluste, ja. Kleine. Kleine Verluste, große Gewinne.«
»Ich möchte wissen, warum.«
»Warum was?« fragte Lombroso.
»Warum überhaupt Verluste?«
»Selbst ein Carvajal muß fehlbar sein.«
»Wirklich?« sagte ich. »Vielleicht verliert er aus strategischen Gründen. Kalkulierte Rückschläge, um die Leute in dem Glauben zu bestärken, daß er auch nur menschlich ist. Oder um andere davon abzuhalten, automatisch seinen Aktionen zu folgen und die Fluktuationen zu verzerren.«
»Glaubst du nicht, daß er nur ein Mensch ist, Lew?«
»Doch, ich glaube, er ist ein Mensch.«
»Aber…?«
»Aber mit einer sehr speziellen Gabe.«
»Der Gabe, Aktien auszusuchen, die steigen werden. Sehr speziell.«
»Mehr als das.«
»Mehr wie?«
»Kann ich noch nicht sagen.«
»Warum fürchtest du dich vor ihm, Lew?« fragte Lombroso.
»Hab’ ich gesagt, ich fürchte mich? Wann?«
»An dem Tag, als er hierher kam, sagtest du mir, daß dir vor ihm gruselt, daß er eine beängstigende Ausstrahlung hat. Erinnerst du dich?«
»Ja, das hab’ ich wohl gesagt.«
»Du meinst, er hext? Du meinst, daß er eine Art Zauberer ist?«
»Ich kenne die Wahrscheinlichkeitstheorie, Bob. Wenn es eine Sache ist, die ich kenne, dann ist es die Wahrscheinlichkeitstheorie. Carvajal hat ein paar Dinge getan, die über normale Wahrscheinlichkeitskurven hinausgehen. Das eine ist sein Erfolg an der Börse. Das andere ist die Gilmartin-Sache.«
»Vielleicht kriegt er seine Zeitung einen Monat im voraus zugestellt«, sagte Lombroso.
Er lachte. Ich nicht.
Ich sagte: »Ich habe keinerlei Hypothesen. Ich weiß nur, Carvajal und ich arbeiten in derselben Branche, und er ist so viel besser als ich, daß es gar keinen Vergleich gibt. Ich sage dir, ich bin bestürzt, und ein bißchen habe ich Angst.«
Lombroso, der in
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