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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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dem Fuhrpark der Stadt entlieh ich mir einen unmarkierten Wagen und fuhr ihn selbst; ich wollte da draußen nicht auch noch das Leben eines Chauffeurs riskieren. Wie die meisten New Yorker fahre ich selten und schlecht, und die Fahrt hatte ihre eigenen Gefahren. Zu guter Letzt aber erreichte ich unversehrt, wenn auch nicht ungerührt Carvajals Straße. Schmutz hatte ich erwartet, ja, und faulende Abfallberge in den Straßen und die schuttbeladenen Grundstücke verwüsteter Häuser, die zwischen den anderen wie Zahnlücken aussahen; aber nicht die trockenen, geschwärzten Tierkadaver auf den Straßen – Hunde, Ziegen, Schweine? – und auch nicht die holzstengeligen Unkräuter, die durchs Pflaster stießen, als wäre dies eine Geisterstadt; nicht den Gestank menschlichen Kots und Urins und nicht die knöcheltiefen Sandverwehungen. Ofenhitze schlug auf mich ein, als ich, ängstlich und von bösen Ahnungen erfüllt, aus der Kühle meines Wagens stieg. Obwohl wir erst Anfang Juni hatten, röstete eine schreckliche Spätaugusthitze diese elenden Ruinen. Das soll New York City sein? Es hätte ein Außenposten in der mexikanischen Wüste vor hundert Jahren sein können.
    Die Alarmanlage im Wagen hatte ich auf volle Bereitschaft gestellt. Ich selbst trug einen Anti-Überfall-Knüppel der stärksten Sorte und an der Hüfte einen Sicherheitsstrahler, der garantiert jeden Übeltäter zwölf Meter weit durch die Luft jagen würde. Dennoch fühlte ich mich aufs schlimmste ausgesetzt, als ich das trostlose Pflaster überquerte; ich wußte, daß ich gegen einen Heckenschützen, der so nebenbei mal von den Dächern ballern würde, keine Verteidigung hatte. Aber obwohl ein paar fahlgesichtige Bewohner dieses gräulichen Dorfs mich aus der Dunkelheit hinter ihren durchlöcherten und zersprungenen Fensterscheiben mit säuerlichen Blicken verfolgten, obwohl mich ein paar schmalhüftige Straßencowboys mit langen, finsteren Blicken musterten, näherte sich mir niemand, niemand sprach mit mir, es gab keinen Kugelhagel von oben. Als ich das zusammensackende Gebäude betrat, in dem Carvajal hauste, fühlte ich mich fast entspannt: Vielleicht war die Gegend nur schlechtgemacht worden, vielleicht war ihr schlechter Ruf nur ein Produkt von Mittelklassen-Wahnvorstellungen. Später erfuhr ich, daß ich niemals mehr als sechzig Sekunden außerhalb meines Wagens überlebt hätte, wenn Carvajal nicht Anweisungen gegeben hätte, die meine Sicherheit gewährten. In diesem ausgetrockneten Dschungel besaß er gewaltige Autorität; seinen grimmigen Nachbarn galt er als eine Art Zauberer, ein heiliges Totem, ein heiliger Narr; er war geachtet und gefürchtet, und man gehorchte ihm bedingungslos. Zweifelsohne hatte ihn seine visionäre Gabe, wohlüberlegt und mit überwältigender Wirkung eingesetzt, hier unantastbar gemacht. Im Dschungel legt sich niemand mit einem Schamanen an – und heute hatte er seinen schützenden Mantel über mich gebreitet.
    Seine Wohnung war im fünften Stock. Einen Aufzug gab es nicht. Jeder Treppenabsatz war ein grimmiges Abenteuer. Ich hörte das Trippeln riesiger Ratten, ich würgte an fauligen, unvertrauten Gerüchen, ich wähnte siebenjährige Mörder in jeder Schattenpfütze lauern. Ohne Zwischenfall erreichte ich seine Tür. Er öffnete mir, bevor ich die Klingel finden konnte. Selbst bei dieser Hitze trug er ein weißes Hemd mit zugeknöpftem Kragen, eine graue Tweedjacke, eine braune Krawatte. Er sah aus wie ein Schulmeister, der mich meine lateinischen Konjugationen und Deklinationen abfragen wollte. »Sehen Sie?« sagte er. »Sicher und wohlbehalten. Ich wußte es. Nichts ist passiert.«
    Carvajal bewohnte drei Räume: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche. Die Decken waren niedrig, der Verputz hatte Risse, die verblichenen grünen Wände sahen aus, als seien sie zuletzt in den Tagen Tricky Dick Nixons gestrichen worden. Das Mobiliar war noch älter, sah nach Truman-Ära aus, abgeschlunzt und überladen, mit blümchengemusterten Schutzhüllen und massigen Flußpferdbeinen. Die ungefilterte Luft war erstickend; die Beleuchtung kam aus Glühbirnen und war trübselig; der Fernseher war ein archaisches Tischmodell; das Abwaschbecken in der Küche hatte fließendes Wasser, keinen Ultraschall. Als ich in den Siebzigerjahren aufwuchs, war einer meiner engsten Freunde ein Junge, dessen Vater in Vietnam gefallen war. Er lebte bei seinen Großeltern, und deren Wohnung sah genauso aus wie diese hier. In unheimlicher

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