Der Seher
prophetischen Gabe vorgeführt hatte.
»Sagen Sie es«, murrte ich. »Stellen Sie die Frage.«
Er seufzte. »Wenn Sie es wünschen.«
»Ich bestehe darauf.«
»Sie wollen fragen, ob Paul Quinn Präsident wird.«
»Das ist es«, sagte ich hohl.
»Meine Antwort ist: ich glaube, ja.«
»Sie glauben? Das ist alles, was Sie mir sagen können? Sie glauben, er wird Präsident?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen alles!«
»Nein«, sagte Carvajal. »Nicht alles. Es gibt Grenzen, und Ihre Frage liegt jenseits dieser Grenzen. Die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann, beruht auf Raten, auf ähnlichen Überlegungen, wie sie jeder, der sich für Politik interessiert, anstellen würde. Auf Grund dieser Überlegungen glaube ich, daß Quinn wahrscheinlich Präsident werden wird.«
»Aber Sie wissen es nicht sicher. Sie können ihn nicht als Präsident sehen.«
»Genau.«
»Es ist jenseits Ihrer Reichweite? Nicht in der unmittelbaren Zukunft?«
»Jenseits meiner Reichweite, ja.«
»Daher sagen Sie mir, daß Quinn im Jahr 2000 nicht gewählt werden wird, daß Sie aber glauben, er habe gute Chancen für 2004, obwohl Sie nicht bis ins Jahr 2004 sehen können.«
»Haben Sie je geglaubt, Quinn würde 2000 gewählt werden?« fragte Carvajal.
»Niemals. Mortonson ist unschlagbar. Es sei denn, es erwischt Mortonson so wie Leydecker; in dem Fall ist die Wahl völlig offen, und Quinn…« Ich hielt inne. »Was sehen Sie für Mortonson voraus? Wird er bis zur Wahl im Jahr 2000 leben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carvajal ruhig.
»Das wissen Sie auch nicht? Die Wahl ist in siebzehn Monaten. Die Reichweite Ihrer Hellsichtigkeit beträgt weniger als siebzehn Monate, wollen Sie das sagen?«
»Zur Zeit, ja.«
»War sie jemals größer?«
»O ja«, sagte er. »Viel größer. Zu Zeiten habe ich bis auf dreißig oder vierzig Jahre vorausgeschaut. Aber jetzt nicht mehr.«
Ich hatte das Gefühl, daß Carvajal wieder mit mir spielte. Erbittert sagte ich: »Besteht eine Chance, daß Ihre langfristige Sehergabe zurückkehrt? So daß Sie, sagen wir, die Wahl des Jahres 2004 erkennen können? Oder wenigstens die Wahl 2000?«
»Nicht wirklich.«
Schweiß lief an meinem Körper herunter. »Helfen Sie mir. Es ist extrem wichtig für mich zu wissen, ob Quinn es ins Weiße Haus schaffen wird.«
»Warum?«
»Nun, weil ich…« Ich stockte, da ich zu meinem Erstaunen erkannte, daß ich außer bloßer Neugier keinen wirklichen Grund hatte. Ich hatte mich der Arbeit für Quinns Wahl verschrieben; unterstelltermaßen war dieser Einsatz nicht an die Bedingung geknüpft, daß ich wußte, ich arbeitete für einen Sieger. Und doch hatte ich in den Augenblicken, als ich dachte, Carvajal könne es mir sagen, verzweifelt nach diesem Wissen verlangt. Umständlich sagte ich: »Weil ich… nun, ich arbeite sehr eng mit ihm zusammen, und ich hätte ein besseres Gefühl, wenn ich wüßte, in welche Richtung das geht, besonders, wenn ich wüßte, daß all unsere Mühe seinetwegen nicht vergeudet sein wird. Ich… äh…« Ich verstummte, fühlte mich töricht.
Carvajal sagte: »Ich habe Ihnen geantwortet, so gut ich konnte. Mein Tipp ist, daß Ihr Mann Präsident wird.«
»Nächstes Jahr oder 2004?«
»Wenn Mortonson nichts zustößt, so hat Quinn meines Erachtens bis 2004 keine Chance.«
»Aber Sie wissen nicht, ob Mortonson etwas zustoßen wird?« beharrte ich.
»Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich weiß es nicht. Bitte glauben Sie mir, daß ich nicht bis zur nächsten Wahl sehen kann. Und probabilistische Techniken sind, wie Sie selbst vor ein paar Minuten hervorgehoben haben, für die Vorhersage von Todesdaten bestimmter Menschen wertlos. In dieser Sache verlasse ich mich nur auf Wahrscheinlichkeiten. Meine Schätzung ist nicht einmal so gut wie Ihre. Auf dem Felde der Stochastik, Mr. Nichols, sind Sie der Experte, nicht ich.«
»Sie sagen also, daß Ihre Unterstützung für Quinn nicht auf absolutem Wissen beruht, nur auf einer Ahnung.«
»Welche Unterstützung für Quinn?«
Seine Frage, die er in so unschuldigem Tonfall hervorbrachte, verblüffte mich. »Sie dachten, er würde einen guten Bürgermeister abgeben. Sie wollen, daß er Präsident wird«, sagte ich.
»Ich dachte? Ich will?«
»Sie haben seinem Wahlkampffond riesige Summen zukommen lassen, als er für das Amt des Bürgermeisters kandidierte. Ist das keine Unterstützung? Im März erschienen Sie im Büro eines seiner Hauptstrategen und boten ihre Hilfe für Quinns weiteren
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