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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Nichtstun, und schon hatte ich die Spuren vieler Muster und Trends verloren –, und dann machte ich die tückische, frostige Reise durch die Stadt zu meinem alten Büro, Lew Nichols und Teilhaber, das immer noch in Betrieb war – obschon nur schwach tickend –, und ließ meine Maschinen an ein paar Projektionen arbeiten. Die Ergebnisse schickte ich per Boten an Bob Lombroso, das Telefon wollte ich nicht riskieren. Was er von mir bekam, war keine große Sache, ein paar windige Vorschläge zur Lohnpolitik der Stadt. In den nächsten Tagen produzierte ich einige weitere, ebenso zahme Ideen. Dann rief Lombroso mich an und sagte: »Wir können aufhören. Mardikian hat uns abgeschossen.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich habe deine Sachen eingereicht, schön langsam, Stück für Stück. Dann war ich gestern mit Haig beim Abendessen, und als wir beim Nachtisch angekommen waren, fragte er mich plötzlich, ob du und ich Verbindung miteinander hätten.«
    »Und du hast ihm die Wahrheit gesagt?«
    »Ich habe versucht, gar nichts zu sagen«, sagte Lombroso mürrisch. »Ich war raffiniert, aber wohl nicht raffiniert genug. Haig ist ein schlauer Fuchs, wie du weißt. Er hat mich sofort durchschaut. Er sagte, diese Sachen bekommst du von Lew, nicht wahr? Ich zuckte die Achseln, und er lachte und sagte, ich weiß es doch. Sie tragen nur allzu deutlich seine Handschrift. Ich habe nichts zugegeben. Haig hat einfach unterstellt – und seine Unterstellung war verdammt richtig. Sehr freundschaftlich sagte er mir, ich solle die Finger davon lassen, ich würde nur meine eigene Stellung gefährden, wenn der Bürgermeister Verdacht schöpfe.«
    »Dann weiß Quinn es noch nicht?«
    »Offenbar nicht. Und Mardikian wird ihm nichts verraten. Aber ich kann kein Risiko eingehen. Wenn Quinn es spitzkriegt, bin ich erledigt. Er dreht jedes Mal durch, wenn der Name Lew Nichols in seiner Gegenwart fällt.«
    »Es ist wirklich so schlimm?«
    »Leider.«
    »Jetzt bin ich also der Feind«, sagte ich.
    »Ich befürchte, ja. Es tut mir leid, Lew.«
    »Mir auch«, sagte ich seufzend.
    »Ich werde dich nicht mehr anrufen. Wenn du mit mir sprechen willst, rufe mein Wall-Street-Büro an.«
    »Okay. Ich möchte nicht, daß du wegen mir in Schwierigkeiten kommst, Bob.«
    »Es tut mir leid«, sagte er noch einmal.
    »Okay.«
    »Wenn ich etwas für dich tun kann…«
    »Okay. Okay. Okay!«
     
38
    Ein wilder Blizzard raste zwei Tage vor Weihnachten durch die Stadt, ein Schneesturm gleich einem wütenden Reptil, mit brutalem Wind, arktischen Temperaturen und Massen trockenen, harten, grobkörnigen Schnees. Ein Sturm, wie er einen Mann aus Minnesota deprimieren und einen Eskimo zum Heulen bringen kann. Den ganzen Tag lang bebten meine Fenster in ihren altehrwürdigen Rahmen, während Kaskaden windgepeitschten Schnees wie Kies dagegen trommelten, und ich bebte mit ihnen und sagte mir, daß wir Januar und Februar mit ihrem ganzen Winterelend noch vor uns hatten, und Schnee auch im März keineswegs undenkbar war. Ich ging früh zu Bett, und als ich früh erwachte, strahlte die Sonne. Kalte, sonnige Tage sind nach Schneestürmen, wenn klare, trockene Luft einfällt, durchaus üblich, aber das Licht war seltsam: Es hatte nicht das harte, spröde Zitronengelb eines Wintertages, sondern eher das süße, weiche Gold des Frühlings; als ich das Radio einschaltete, sprach der Ansager gerade über die dramatische Wetteränderung. Offenbar waren Luftmassen aus den Carolinas über Nacht nordwärts gewandert, und es war plötzlich warm wie Ende April.
    Und April blieb es. Tag für Tag umschmeichelte die unzeitgemäße Wärme die wintermüde Stadt. Natürlich war alles zuerst ein einziger Sumpf, als der Schnee schmolz und in reißenden Bächen durch die Gossen strömte; aber bis zur Mitte der Feiertagswoche war der Schneematsch verschwunden, und Manhattan sah schmuck, trocken, wohlgeschrubbt aus wie selten. Flieder und Forsythien durchbrachen voreilig ihre Knospen, um Monate zu früh. Eine Welle des Leichtsinns schwappte durch New York: Überzieher und Schneejacken verschwanden, die Straßen füllten sich mit lächelnden, aufgekratzten Menschen in Hemden und Blusen, Scharen nackter und halbnackter Sonnenanbeter breiteten sich, blaß, aber eifrig, auf den sonnigen Böschungen des Central Park aus, jeder Brunnen in der Stadt war von Musikanten, Jongleuren und Tänzern umlagert. Die Karnevalsatmosphäre verdichtete sich, als das alte Jahr dem Ende zutickte und das erstaunliche

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