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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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nie begegnet! Wissen Sie, was Sie sind, Carvajal? Ein Vampir sind Sie, ein Blutsauger, der Energie und Vitalität aus mir zieht! Sie benützen mich, Ihre Kräfte aufzufrischen, während Sie dem Ende Ihres nutzlosen, sterilen, vergeudeten, leeren Lebens zutreiben!«
    Das alles schien Carvajal keineswegs zu bewegen. »Es tut mir leid, daß Sie sich so miserabel fühlen«, sagte er sanft.
    »Was verbergen Sie noch vor mir? Kommen Sie, nur heraus mit all den schlimmen Nachrichten! Rutsche ich Weihnachten auf Glatteis aus und breche mir das Rückgrat? Verbrauche ich meine Ersparnisse und werde erschossen, während ich eine Bank beraube? Werde ich demnächst zum Fixer? Kommen Sie, sagen Sie, was mir bevorsteht!«
    »Bitte, Lew.«
    »Sagen Sie mir’s!«
    »Sie sollten sich beruhigen.«
    »Sagen Sie mir’s!«
    »Ich verberge nichts. Sie werden einen ziemlich ereignislosen Winter verbringen. Es wird eine Zeit des Übergangs für Sie sein, der Meditation und des inneren Wandels, ohne dramatische äußere Ereignisse. Und dann – und dann –, mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Lew. Sie wissen, ich kann nicht weiter als bis zum kommenden Frühling sehen.«
    Diese letzten Worte trafen mich wie ein Fußtritt in den Bauch. Natürlich. Natürlich! Carvajal würde bald sterben. Ein Mann, der nichts tun würde, seinen eigenen Tod zu verhindern, würde auch nicht eingreifen, wenn ein anderer, selbst sein einziger Freund, geradewegs auf die Katastrophe zumarschierte. Er würde seinen Freund sogar noch den Abhang hinunterstoßen, wenn er einen Stoß für richtig hielt. Es war naiv von mir gewesen, anzunehmen, Carvajal würde mich vor Schaden zu bewahren suchen, wenn er einmal den Schaden hatte kommen sehen. Der Mann war ungut. Und der Mann wollte mein Verderben.
    Ich sagte: »Alle Abmachungen zwischen uns sind gekündigt. Ich habe Angst vor Ihnen. Ich möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben, Carvajal. Sie werden nichts mehr von mir hören.«
    Er schwieg. Vielleicht lachte er in sich hinein. Fast sicher lachte er in sich hinein.
    Sein Schweigen untergrub die melodramatische Wucht meiner kleinen Abschiedsrede.
    »Wiedersehen«, sagte ich, kam mir im selben Moment furchtbar blöde vor und hängte krachend auf.
     
36
    Nun legte sich der Winter über die Stadt. In manchen Jahren schneit es erst im Januar oder Februar; aber wir hatten ein weißes Thanksgiving, und in der ersten Dezemberhälfte folgte Blizzard auf Blizzard, bis es so aussah, als würde alles Leben in New York in der Umarmung einer neuen Eiszeit erdrückt. Die Stadt besitzt raffiniertes Schneeräumungsgerät, Hitzekabel unter den Straßen, Lastwagen mit Schmelztanks, eine Armada von Schneepflügen, Räum- und Streufahrzeuge, aber kein Gerät war auf einen Winter eingerichtet, der am Mittwoch zehn Zentimeter Schnee fallen ließ, weitere zwölf am Freitag, fünfzehn am Montag, einen halben Meter am Samstag. Gelegentlich taute es zwischen den Schneestürmen, so daß die Spitzen der aufgetürmten Schneemassen schmolzen und Schneematsch in die Gosse tropfte, aber dann kam wieder die Kälte, die tödliche Kälte, und was geschmolzen war, verwandelte sich schnell in tückisches Eis. Alle Aktivitäten kamen in der eingefrorenen Stadt zum Stillstand. Gespenstische Stille herrschte. Ich blieb in meiner Wohnung, wie jeder, der nicht unbedingt hinaus mußte. Das Jahr 1999, das ganze zwanzigste Jahrhundert, schien sich in eiskalter Heimlichkeit davonmachen zu wollen.
    In dieser schlimmen Zeit hatte ich praktisch mit niemandem Kontakt, außer mit Lombroso. Fünf oder sechs Tage nach meiner Entlassung rief er mich an, um mir sein Bedauern auszudrücken. »Aber warum«, wollte er wissen, »hast du dich entschlossen, Mardikian die Geschichte zu erzählen?«
    »Ich hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Er und Quinn nahmen mich nicht mehr ernst.«
    »Und du dachtest, sie würden dich ernster nehmen, wenn du behauptest, du könntest die Zukunft sehen?«
    »Ich habe riskiert und verloren.«
    »Für einen Mann, der immer eine außergewöhnlich feine Intuition hatte, Lew, hast du diese Situation auffallend dumm gehandhabt.«
    »Ich weiß. Ich weiß. Ich dachte wohl, Mardikian hätte eine etwas beweglichere Einbildungskraft. Vielleicht habe ich auch Quinn überschätzt.«
    »Mit einer beweglichen Einbildungskraft hätte Mardikian es nicht zu dem gebracht, was er heute ist«, sagte Lombroso. »Was den Bürgermeister angeht, der spielt um einen hohen Einsatz, und da will er kein

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