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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Wetter immer noch anhielt; denn dies war 1999, und was da im Gehen war, war nicht nur ein Jahr, sondern ein ganzes Jahrtausend. (Diejenigen, die darauf bestanden, daß das Einundzwanzigste Jahrhundert und das Dritte Jahrtausend ordnungsgemäß erst am i. Januar 2001 begännen, wurden als Spielverderber und Pedanten betrachtet.) Das Aprilwetter im Dezember entfesselte alle. Die unnatürliche Wärme, die so dicht auf die unnatürliche Kälte folgte, die geheimnisvolle Helligkeit der Sonne, die niedrig über dem südlichen Horizont hing, die frühlingshafte Weichheit der Luft, all das gab diesen Tagen einen bizarren, apokalyptischen Geschmack, so daß alles möglich schien und man sich nicht verwundert hätte, seltsame Kometen am nächtlichen Himmel oder heftige Verrückungen in den Sternzeichen zu entdecken. Ich stellte mir vor, so ähnlich muß es in Rom kurz vor dem Einfall der Goten gewesen sein oder in Paris vor dem Ausbruch des Terrors. Es war eine fröhliche, aber heimlich beunruhigende, beängstigende Woche; wir genossen die wundersame Wärme, nahmen sie aber auch als Omen, als Vorzeichen einer düsteren Prüfung, die noch kommen würde. Mit dem letzten Dezembertag kam eine wahrnehmbare Erhöhung der Spannung. Noch beherrschte uns die leichtsinnige Stimmung, aber sie hatte einen Stachel. Unser Zustand glich der verzweifelten Fröhlichkeit von Seiltänzern, die über bodenlosem Abgrund tanzen. Einige, denen die grimme Prophezeiung offenbar ein grausames Vergnügen bereitete, sagten, der Silvesterabend würde unter plötzlichem, ungeheurem Schneefall ersticken, unter Flutwellen oder Tornados, obwohl der Wetterbericht weiter mildes Wetter ansagte. Der Tag war hell und süßlich wie die sieben vorangegangenen Tage. Zur Mittagszeit erfuhren wir, daß es jetzt schon der wärmste 31. Dezember war, seit solche Daten in New York City gesammelt werden, und das Quecksilber kletterte den ganzen Nachmittag, so daß wir von einem Pseudo-April in eine verblüffende Juni-Imitation gerieten.
    Während dieser ganzen Zeit hatte ich niemanden aufgesucht, war allein geblieben mit trübseliger Konfusion und Selbstmitleid. Ich rief niemanden an – weder Lombroso noch Sundara, weder Mardikian noch Carvajal, noch sonst jemand aus meinem früheren Leben. Täglich wanderte ich ein paar Stunden durch die Straßen – wer konnte schon dieser Sonne widerstehen? –, aber ich sprach mit niemandem und ermutigte niemanden, mit mir zu sprechen, und abends war ich zu Hause, alleine, las ein wenig, trank etwas Brandy, hörte Musik, ohne wirklich zu hören, ging früh zu Bett. Meine Isolation schien mich aller stochastischen Disziplin und Würde zu berauben: Ich lebte ausschließlich in der Gegenwart, wie ein Tier, ohne Ahnung, was als nächstes passieren würde, ohne das alte Bewußtsein von Mustern und Tendenzen, die sich sammelten und ineinander griffen.
    Am Silvesterabend mußte ich hinausgehen. Der Gedanke, mich an einem solchen Abend, unter anderem dem Abend meines vierunddreißigsten Geburtstages, in meiner Einsamkeit zu verbarrikadieren, war mir unerträglich. Ich dachte daran, Freunde anzurufen, aber nein, die sozialen Energien hatten mich verlassen: Allein und unbekannt würde ich durch die Seitenwege Manhattans schleichen, wieder Kalif Harun al-Raschid durch Bagdad. Aber ich hüllte mich in mein bestes Pfauenkostüm, einen Sommeranzug in Scharlachrot mit Gold mit glitzernden Nähten, ich stutzte den Bart und rasierte die Kopfhaut, und munter ging ich hinaus, das Jahrhundert zu Grabe zu tragen.
    Am späten Nachmittag war es dunkel geworden – immer noch waren wir ja tief im Winter, egal, was das Thermometer sagte –, und die Lichter der Stadt funkelten. Obwohl es erst sieben Uhr war, fing man offensichtlich schon an zu feiern, ich hörte Gesang, fernes Lachen, das Geräusch zersplitternden Glases. In einem kleinen Automatenrestaurant auf der Third Avenue nahm ich ein mageres Abendessen zu mir und ging dann ziellos in westlicher und südlicher Richtung.
    Gewöhnlich bummelte man nach Einbruch der Dunkelheit nicht durch Manhattan. Aber heute Abend waren die Straßen so belebt wie sonst am Tage, Fußgänger überall, lachende Menschen, die in die Schaufenster der Geschäfte guckten, Fremden zuwinkten, einander spielerisch anrempelten – ich fühlte mich sicher. War dies wirklich New York, die Stadt der verschlossenen Gesichter und argwöhnischen Augen, die Stadt der Messer, die in dunklen Straßen aufblitzten? Ja, ja, ja, New York, aber

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