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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Hubschrauber fliegt über sie hinweg. Drei ruderartige Auswüchse hängen von ihm herab, am Ende jedes Ruders sind offensichtlich Lautsprecher. Aus den drei Lautsprechern kommt ein klagender, blökender Laut, hoch und sanft, ein periodischer Ton von vielleicht zwei Sekunden Dauer, von fünf Sekunden Stille unterbrochen. Der Rhythmus ist vollkommen stetig, jedes sanfte Blöken kommt nach Plan und schneidet mühelos durch den dichten Wirbel der Schneeflocken. Der Hubschrauber fliegt langsam die Fifth Avenue entlang, in einer Höhe von weniger als 500 Metern, und während er gen Norden blökt, schmilzt der Schnee unter ihm: Die Avenue ist vom Schnee geräumt.
    Sundara und ich trinken Cocktail in einer glitzernden Bar, die wie die Gärten des Nebukadnezar von der Spitze eines riesigen Wolkenkratzers hoch über Los Angeles herabhängt. Ich nehme an, es ist Los Angeles, denn vom Fenster aus kann ich tief unten die federartigen Konturen von Palmen erkennen, die die Straße säumen; die Architektur der umliegenden Gebäude ist deutlich südkalifornisch, und durch den dämmrigen Dunst hindurch sehe ich im Westen ein weites Meer und Berge im Norden. Ich weiß nicht, was ich in Kalifornien mache oder wie es kommt, daß ich hier mit Sundara zusammen bin; es ist denkbar, daß sie in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt ist und daß ich, auf Geschäften hier, ein Wiedersehen vorgeschlagen habe. Wir haben uns beide verändert. Ihr Haar durchziehen weiße Strähnen, ihr Gesicht wirkt schmaler, weniger sinnlich; ihre Augen leuchten wie früher, aber das Leuchten in ihnen ist der Funke von hart erkämpftem Wissen, nicht mehr nun von Verspieltheit. Ich habe lange Haare, die ergrauen, und stecke in einer schmucklosen schwarzen Tunika von grimmig-züchtiger Strenge; ich muß ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein und komme mir straff, frisch, imposant vor, ein befehlsgewohnter Managertyp, so selbstbeherrscht, daß ich vor mir selbst erschauere. Sprechen meine Augen von jener tragischen Erschöpfung, jener ausgebrannten Hohlheit, die Carvajal nach so vielen Jahren des Sehens gekennzeichnet hatten? Ich glaube nicht; aber vielleicht ist meine Gabe des zweiten Gesichts noch nicht entwickelt genug, auch solche subjektiven Feinheiten zu registrieren. Sundara trägt keinen Ehering, und auch keine Transit-Symbole sind an ihr zu erkennen. Mein beobachtendes Ich will tausend Fragen stellen. Ich will wissen, ob es zu einer Versöhnung gekommen ist, ob wir uns oft treffen, ob wir uns lieben, ob wir vielleicht sogar wieder zusammenleben. Aber ich habe keine Stimme, ich kann nicht durch den Mund meines zukünftigen Selbst sprechen, es ist mir ganz und gar unmöglich, seine Handlungen zu steuern oder zu beeinflussen; ich kann nur beobachten; er und Sundara bestellen Getränke; sie stoßen mit ihren Gläsern an; sie lächeln; sie plaudern über den Sonnenuntergang, das Wetter, die Einrichtung der Bar. Dann entschlüpft das Bild, und ich habe nichts erfahren.
    Soldaten ziehen durch die Schluchten New Yorks, in Fünferreihen, spähen vorsichtig nach allen Seiten. Ich beobachte sie vom Fenster eines höheren Stockwerks. Sie tragen bizarre grüne Uniformen mit roten Nähten, blutscheckige Mützen, Fransen an den Schultern. Ihre Waffen erinnern ein wenig an Armbrüste – kräftige Metallröhren von einem Meter Länge, die sich am äußeren Ende zu einem Fächer weiten und dicht mit schimmernden Drahtspiralen besetzt sind – deren breites Ende auf ihren linken Unterarmen ruht. Das Ich, das sie beobachtet, ist ein Mann von wenigstens sechzig Jahren, weißhaarig, hager, mit tiefen vertikalen Furchen in seinen Wangen; er ist erkennbar ich selbst, und doch ist er mir fast völlig fremd. Auf der Straße löst sich eine Gestalt aus dem Schatten eines Gebäudes und stürzt wild auf die Soldaten zu, brüllt Slogans, schüttelt drohend die Arme. Ein sehr junger Soldat reißt den rechten Arm hoch, und geräuschlos verläßt ein Strahl grünen Lichts seine Waffe; die gestikulierende Gestalt hält inne, erglüht und verschwindet. Verschwindet einfach.
    Das Ich, das ich sehe, ist immer noch jugendlich, aber älter, als ich jetzt bin. Vielleicht vierzig: Dann wäre das etwa das Jahr 2006. Ich liege auf einem zerwühlten Bett neben einer attraktiven jungen Frau mit langem schwarzen Haar; wir sind beide nackt, verschwitzt, zerzaust; offensichtlich haben wir uns gerade geliebt. Ich frage: »Hast du gestern Abend die Rede des Präsidenten gehört?«
    »Warum soll ich so einem

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