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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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vergessen. In schwierigen Zeiten kommt das an die Oberfläche. Im Rathaus bist du der Antichrist geworden, Lew.«
    »Ist er so außer sich, daß er nicht sieht, wie nützlich jemand sein könnte, der ihn auf solche Sachen wie den Sudakis-Rücktritt vorbereitet?«
    »Keine Hoffnung, Lew. Vergiß es. Du wirst nie wieder für ihn arbeiten. Schlag dir den Gedanken ganz und gar aus dem Kopf. Denke nicht an Quinn, schreib ihm keine Briefe, versuch nicht, ihn anzurufen, habe nichts mit ihm zu tun. Du solltest dir sogar überlegen, die Stadt zu verlassen.«
    »Jesus. Warum?«
    »Zu deinem eigenen Besten.«
    »Was soll das heißen? Bob, willst du mir sagen, daß mir von Quinn Gefahr droht?«
    »Ich will dir gar nichts sagen«, sagte er nervös.
    »Ich werde nicht glauben, daß Quinn solche Angst vor mir hat, wie du meinst, und ich weigere mich absolut zu glauben, daß er irgend etwas gegen mich unternehmen würde. Das ist nicht denkbar. Ich kenne den Mann. Ich war vier Jahre lang praktisch sein anderes Ich…«
    »Hör zu, Lew«, sagte Lombroso, »ich muß aufhören. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Arbeit sich hier stapelt.«
    »In Ordnung. Danke für deinen Anruf.«
    »Und – Lew…«
    »Ja?«
    »Du solltest mich lieber nicht wieder anrufen. Nicht einmal unter der Wall-Street-Nummer. Außer du bist in dringender Not, natürlich. Mein eigener Stand bei Quinn ist etwas heikel, seit ich versucht habe, deinen Mittelsmann zu spielen und jetzt… und jetzt… nun, du verstehst, nicht wahr? Du verstehst mich sicher.«
     
40
    Ich verstand. Ich habe Lombroso die Belastung weiterer Anrufe von mir erspart. Fast elf Monate sind seit jenem Gespräch vergangen, und in dieser Zeit habe ich kein Wort mit ihm gewechselt, kein Wort mit dem Mann, der während meiner Jahre als Quinns Berater mein engster Freund war. Und genauso wenig bin ich, direkt oder sonst wie, mit Quinn in Verbindung getreten.
     
41
    Im Februar begannen die Visionen. Ein Vorläufer hatte mich an der Küste von Big Sur erreicht, ein anderer in der Neujahrsnacht auf dem Times Square, aber jetzt wurden sie zum festen Bestandteil meines täglichen Lebens. Den schwarzen Schleier durchdringen wir nicht, sagte der Dichter, denn hinter dem Vorhang ist kein Licht. Oh, aber das Licht, das Licht, das Licht, das Licht ist da! Und es erleuchtete meine Wintertage. Zuerst überkamen mich die Visionen nicht öfter als einmal am Tag, und dann kamen sie ungefragt, wie epileptische Anfälle, gewöhnlich am späten Nachmittag oder kurz vor Mitternacht; sie kündigten sich mit einem Glühen im Hinterkopf an, einer Wärme, einem Kribbeln, das nicht aufhören wollte. Aber bald beherrschte ich die Technik, sie herbeizuführen. Selbst dann konnte ich höchstens einmal am Tag sehen und benötigte hinterher eine längere Erholungspause. Innerhalb weniger Wochen jedoch war ich in der Lage, häufiger in den Zustand des Sehens einzutauchen – zwei oder sogar dreimal am Tag –, als ob die Fähigkeit ein Muskel wäre, der mit Gebrauch anschwillt. Schließlich wurde die Zeit, die ich für Erholung brauchte, minimal. Jetzt kann ich mich der Gabe alle fünfzehn Minuten bedienen, wenn ich will. Einmal, Anfang März, machte ich ein Experiment und schaltete stundenlang ständig ein und aus, ein und aus: Ich ermüdete, aber die Intensität dessen, was ich sah, verringerte sich nicht.
    Wenn ich die Visionen nicht mindestens einmal am Tag herbeirufe, kommen sie von selbst, pochen aus eigenem Antrieb an die Tür meines Bewußtseins und fließen ungebeten herein.
     
42
    Ich sehe ein kleines Haus mit roten Dachschindeln an einer Landstraße. Die Bäume sind voll belaubt, dunkelgrün; es muß wohl später Sommer sein. Ich stehe an der Eingangstüre. Mein Haar ist noch kurz und borstig, aber ich habe keine Glatze mehr; diese Szene kann nicht in ferner Zukunft liegen, wahrscheinlich gehört sie noch zu diesem Jahr. Zwei junge Männer sind bei mir, der eine dunkelhaarig und schlank, der andere rothaarig, stämmig. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind, aber das Ich, das ich sehe, verkehrt entspannt und freundlich mit ihnen, als wären es vertraute Gefährten. Also sind es Freunde, die ich erst noch kennen lernen werde. Ich sehe, wie ich einen Schlüssel aus der Tasche ziehe. »Schaut euch das Haus an«, sage ich. »Ich glaube, es ist ziemlich genau das, was wir für das Zentrum suchen.«
    Schnee fällt vom Himmel. Die Autos auf den Straßen sind geschoßförmig, stupsnasig, sehr klein, sehr fremd. Eine Art

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