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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Männer in Blau das Chaos oft eher geschürt und geführt als zu bändigen versucht. In den Spätnachrichten verlautete, daß Polizeichef Sudakis, persönliche Verantwortung für das Debakel übernehmend, zurückgetreten sei. Ich sah ihn auf dem Bildschirm, sein Gesicht war starr, seine Augen rot unterlaufen, sein Zorn kaum unter Kontrolle; stockend sprach er von der Scham, die er empfand, der Schande; er sprach vom Zusammenbruch der Moral, sogar vom Niedergang der städtischen Zivilisation; er sah aus wie ein Mann, der eine Woche lang nicht geschlafen hat: mitleiderregender, peinlicher Anblick eines geschundenen Menschen, der murmelte und hustete, und ich betete im stillen, daß die Fernsehleute ihn in Ruhe ließen. Sudakis’ Rücktritt war meine eigene Rehabilitierung, aber ich konnte daran keinerlei Vergnügen finden, nicht, solange dieses traurige, verwüstete Gesicht mich aus dem Bildschirm ansah. Endlich wechselte das Bild; wir sahen den Schutt eines Gebiets von fünf Blocks, das pflichtvergessene Feuerwehrmänner hatten niederbrennen lassen. Ja, ja, Sudakis war zurückgetreten. Natürlich. Die Wirklichkeit verwirklicht sich; Carvajals Unfehlbarkeit hat sich aufs neue bestätigt. Wer hätte solche Ereignisse erwarten können? Ich nicht, Bürgermeister Quinn nicht, nicht einmal Sudakis; nur Carvajal.
    Ich wartete einige Tage ab, während die Stadt langsam wieder zum normalen Leben zurückkehrte; dann rief ich Lombroso in seinem Wall-Street-Büro an. Natürlich war er nicht da. Ich ließ ausrichten, er möge mich zurückrufen, sobald er Zeit habe. Alle hohen Mitglieder der Stadtregierung waren praktisch rund um die Uhr beim Bürgermeister. In jedem Bezirk hatten Feuersbrünste Tausende von Leuten obdachlos gemacht; die Krankenhäuser waren mit Unfallopfern und Opfern der Gewalt überfüllt; Schadenersatzklagen gegen die Stadt, hauptsächlich wegen der Versäumnisse der Polizei, beliefen sich schon auf Milliarden Dollar und nahmen stündlich zu. Und dann war da auch der Schaden, den das öffentliche Image der Stadt erlitten hatte. Seit seinem Amtsantritt hatte sich Quinn gewissenhaft darum bemüht, den Ruf, den New York in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt hatte, wiederherzustellen: den Ruf der anregendsten, vitalsten Stadt der Nation, der wahren Hauptstadt des Planeten, des Mittelpunkts all dessen, was interessant war, einer Stadt, die atemberaubend und doch für Besucher sicher war. Alles das war in einer einzigen orgiastischen Nacht ruiniert worden, die mehr dem üblichen Bild entsprach, das man sich im Lande von New York machte: eines brutalen, verrückten, grausamen, schmutzigen Zoos. So hörte ich also bis Mitte Januar nichts von Lombroso, bis alles wieder einigermaßen ruhig war; und ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, je wieder von ihm zu hören, als er schließlich doch anrief.
    Er berichtete mir, was sich im Rathaus tat: Der Bürgermeister, der sich über die Auswirkungen des Krawalls auf seine Präsidentschaftschancen sorgte, bereitete ein Bündel drastischer, fast Gottfriedischer Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vor. Die Durchforstung der Polizei würde beschleunigt, der Drogenhandel fast so weitgehend beschränkt werden, wie er es vor den Auflockerungen der Achtzigerjahre gewesen war, ein Frühwarnsystem würde eingerichtet werden, um Ruhestörungen, an denen mehr als zwei Dutzend Menschen beteiligt waren, sofort im Keim ersticken zu können, et cetera, et cetera. Das alles kam mir falsch und kopflos vor, eine überstürzte, panische Reaktion auf ein einmaliges Ereignis, aber mein Rat war nicht mehr erwünscht, und ich behielt meine Gedanken für mich.
    »Was ist mit Sudakis?« fragte ich.
    »Er ist unwiderruflich gegangen. Quinn hat seinen Rücktritt abgelehnt und drei volle Tage lang versucht, ihn zum Bleiben zu überreden, aber Sudakis meint, er sei hier durch das Verhalten seiner Männer in jener Nacht ein für allemal diskreditiert. Er hat irgendeinen Kleinstadtjob in Pennsylvania übernommen und ist schon weg.«
    »Das meine ich nicht. Ich meine, hat die Richtigkeit meiner Prophezeiung irgendeine Auswirkung auf Quinns Einstellung zu mir gehabt?«
    »Ja«, sagte Lombroso. »Eindeutig.«
    »Wird er es sich überlegen?«
    »Er denkt, du bist ein Hexer. Er hält es für möglich, daß du deine Seele dem Teufel verkauft hast. Buchstäblich. Buchstäblich. Unter all seiner Intellektualität ist er immer noch ein irischer Katholik, das darfst du nicht

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