Der Selbstversorger (Einzeltitel) (German Edition)
Kulturanthropologie. Die Steinzeit, die mehr als 99 Prozent der Zeit ausmacht, in der Menschen auf der Erde leben, und die Lebensweise der Jäger und Sammlerinnen, der einfachen Hackbauern und Gärtnervölker faszinierten mich. Genauere ethnologische Untersuchungen zeigten, dass im Gegensatz zu dem Fortschrittsdogma des 19. Jahrhunderts diese Stammesgesellschaften, die es noch bis in unsere Zeit gibt, keineswegs arm, rückständig und primitiv sind. Sie leben glücklicher und stressfreier als der moderne Zivilisationsmensch, und hungern tun sie auch nicht. In einer ursprünglichen, ökologisch intakten, natürlichen Umwelt stand ihnen eine Fülle von hochwertigen Nahrungsquellen zur Verfügung. Sie lebten, wie der Anthropologe Marshall Sahlins schreibt, in der „ursprünglichen Wohlstandsgesellschaft“. Erst wenn ihre traditionelle Lebensweise durch kolonialistische Ausbeutung gestört und ihre natürliche Umgebung vernichtet wird, dann entwickeln sich Armut, Dreck, Verfall und Rückständigkeit, denen man in der sogenannten Dritten Welt auf Schritt und Tritt begegnet.
Gut recherchierte Studien über die Lebensweise und Ernährung der San, der Buschmänner in der südafrikanischen Kalahari-Wüste, und bei anderen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zeigen Menschen, die – mit weniger Aufwand, als wir es kennen – ein gutes Leben führen und denen eine reichhaltige, breit gefächerte Diät mit mehr als genügend Kalorien zur Verfügung steht. Über 300 verschiedene Pflanzenarten werden bei den San gegessen, weit mehr als die wenigen Dutzend hochgezüchteten Arten, die in den Supermärkten angeboten werden. Dazu kommen eiweißreiche Insekten, Raupen und andere tierische Kost. Um eine Familie zu ernähren, brauchen die sammelnden Frauen und Kinder nicht mehr als zwei oder drei Stunden pro Tag.
Getrennt von Mutter Erde
Bei den Indianern oder den australischen Aborigines war es nicht viel anders. Voraussetzung war jedoch immer eine intime Naturkenntnis – ein Wissen, das sie sich schon von klein auf aneigneten – bei den täglichen Sammelausflügen mit den Müttern, den Großmüttern, Geschwistern und Tanten – bis es zur zweiten Natur wurde. Ein alter Ureinwohner erzählte einmal dem australischen Völkerkundler Georg Elkin: „Ja, unsere Jungen, wenn sie in die Städte gehen, entwickeln ein großes Maul, so wie die Weißen. Aber im Grunde genommen haben sie Angst. Denn wer nicht weiß, wie man sich von der Erde unmittelbar ernähren kann, ist tief verunsichert, er hat Angst und ist auch manipulierbar, wie ein kleines Kind, das seine Mutter verloren hat.“
Dieses Verlorensein, diese Entfremdung von der Natur, ist in unserer westlichen, übertechnisierten Welt zum Normalzustand geworden, zugleich aber auch die untergründige, meist verdrängte Unsicherheit und Lebensangst. Je mehr wir in einer virtuellen Welt leben, die gespeist wird durch endlose Video-Unterhaltung und abstraktes Schulwissen, und unsere natürlichen Wurzeln vergessen, umso mehr Angst werden die Menschen haben.
Angst vor der Natur
Für mich als elfjährigen Jungen war die neue Welt, in die wir ausgewandert waren, aufregend und befreiend. Was für eine herrliche, wilde Natur! Gleich am Stadtrand. Es dauerte nicht lange, bis ich entdeckte, dass meine neuen Spielgefährten meine Begeisterung nicht teilten, sie sahen die Welt anders, als ich es gewohnt war. Für sie war die Natur etwas Gefährliches, etwas, wovor man sich schützen musste. Einmal entdeckte ich beim Spielen zu meiner Freude einen wild wachsenden Johannisbeerbusch mit reifen roten Früchten. Als ich anfing, sie mir in den Mund zu stopfen, schrien die anderen entsetzt: „ You’re going to die – Du wirst sterben! Rote Beeren sind giftig!“ Als ich später einmal über den Schulzaun kletterte, riefen mir die Klassenkameraden nach: „Du verrückter Kraut! Da wirst du umkommen. Da sind Giftschlangen, tollwütige Tiere und poison ivy (Giftsumach)!“ Ich war erstaunt über diese Reaktion, aber so entdeckte ich die Wildnis als mein persönliches Revier. Kein Mensch ging da hinein, außer dem Farmer, der Holz schlug, oder, im Herbst, die schwer bewaffneten Jäger, die praktisch auf alles schossen, was sich bewegte.
Viel später in Oregon – ich hielt gerade eine Ethnologie-Vorlesung am örtlichen College – kam die Sekretärin in den Hörsaal gestürzt: „Dr. Storl, bitte kommen Sie sofort ans Telefon. Ein Notfall, der Chefarzt will sie sprechen!“ Der Arzt bat um Rat. Ein Junge
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