Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
verbliebenen Stümpfe seiner abgebrochenen Masten lagen auf gleicher Höhe mit den Ausläufern des Berges des Lichtes, auf dem das Schloss erbaut worden war. Als der Schlitten wieder ruckend Fahrt aufnahm, nahm Tal seinen Blick vom Schiff und schaute in den dunklen Himmel hinauf. Abgelenkt vom Leuchten des Schiffes, musste er sehr viel höher blicken, als er angenommen hatte, um die fernen Lichter des Schlosses zu sehen.
Das Schloss war um ein vielfaches größer als das Ruinenschiff und seine Lichter waren die einzigen Leuchtpunkte am Himmel. Seine sieben Türme durchstießen sogar den Schleier, der die ganze Welt in Dunkelheit hüllte.
Der Anblick seines fernen Zuhauses tröstete Tal. Sein ganzes Leben lang hatte man ihm beigebracht, dass nur die Erwählten etwas zählten, dass nur sie etwas Dauerhaftes erschaffen konnten. Das Schloss war noch immer das größte existierende Bauwerk und diese Ruinenschiff verblasste im Vergleich dazu.
„Schön, nicht?“, fragte Milla. Tal hatte Milla noch nie etwas in einem solch respektvollen Ton sagen hören. Einen Moment nahm er an, sie hätte die Bedeutung des Schlosses akzeptiert. Dann wurde ihm klar, dass sie sich nur aufgerafft hatte, um das Ruinenschiff anzusehen.
„Wäre es nicht besser, wenn du liegen bleiben würdest?“, fragte er. Milla war schwer verwundet worden beim Kampf gegen ein einäugiges Merwin, einer üblen Kreatur, die vom Schwanz bis zur Spitze ihres Horns länger als der Schlitten mit allen sechs Wreska war. Tal hatte es geschafft, das Monster zu blenden – Milla jedoch war diejenige gewesen, die es schließlich getötet hatte. Immer wenn sie besonders unerträglich war, versuchte Tal sich daran zu erinnern.
„Das ist die Wiege meines Volkes“, sagte Milla. „Es gibt eine Menge Geschichten über das Schiff. Viele unserer großen Sagen beginnen und enden hier.“
Sie hielt inne und holte tief Luft, was ihr offensichtlich Schmerzen verursachte. Dann rezitierte sie:
Grün das Glühen des Eises,
hoch am Ende des Mastes
Schwarz das Blut,
festgebacken und wie kalte Asche
Rot das Band, gebunden durch den Bart
Weiß die Wreska, die ihn nach Hause ziehen
Kehrt Ragnar heim, viele Tage schon tot
Tal erwiderte nichts. Die Poesie der Eiscarls – oder wie immer man es nennen mochte – handelte von Leuten, die heldenhaft auf dem Eis ums Leben gekommen waren.
„Das Ruinenschiff ist das Hauptquartier der Schildjungfrauen“, fügte Milla hinzu.
Jetzt verstand Tal, weshalb Milla sich aufgerafft und an der Wand des Schlittens hochgezogen hatte. Die Schildjungfrauen wanderten über das Eis und kümmerten sich um alles Mögliche: Sie schlichteten Streit zwischen den verschiedenen Clans, jagten Verbrecher und töteten gefährliche Kreaturen. Tal schien es, als konnten nur Furcht einflößende Frauen ohne jeden Sinn für Humor Schildjungfrauen werden.
Milla starrte weiter auf das Ruinenschiff. Sie ignorierte den Schmerz in ihrer Seite. Ihr ganzes Leben hatte sie der Vorbereitung gewidmet, eine Schildjungfrau zu werden. Eiscarls maßen ihre Lebenszeit in Umrundungen; das war die Zeit, die ein Eisschiff brauchte, um einmal die Welt auf dem Pfad der endlosen Selski-Herden zu umrunden.
Seit ihrer vierten Umrundung hatte Milla unaufhörlich daran gearbeitet, die beste Schlittschuhläuferin zu werden, perfekt mit allen Waffen umgehen zu können und die gefährlichsten Jagdpartien zu wagen.
Jetzt, da sie gerade einmal vierzehn Umrundungen erlebt hatte, war Milla eine außergewöhnliche Kriegerin, sogar gemessen an den Standards ihrer kriegerischen Rasse. Sie hatte das nicht zuletzt in ihrem Kampf gegen das einäugige Merwin bewiesen.
Es gab nur wenige Eiscarls, die überhaupt jemals ein solches Wesen besiegt hatten – auch wenn man bedachte, dass Tal es zuvor mit seinem Sonnenstein geblendet hatte. Dieses besondere Merwin war für seine Gefährlichkeit und Ausdauer bekannt gewesen. Eine ganze Hand aus zwölf Schildjungfrauen hatte es viele Schlafzeiten lang verfolgt. Sie waren zu spät gekommen, um gegen das Merwin zu kämpfen. Dafür waren sie gerade zur rechten Zeit erschienen, um Tal und die schwer verwundete Milla zu retten.
Zögerlich blickte Milla auf den Schatten, der zu Tals Füßen lag. Er sah aus wie ein natürlicher Schatten – jedoch nur, weil Tal ihm verboten hatte, sich anders zu verhalten. Die Eiscarls hatten gedroht, Tal zu töten, wenn sein Schatten selbstständig etwas unternehmen sollte. Doch Milla hatte schon gesehen, wie er
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