Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
sich bewegen und verschiedene Formen annehmen konnte. Tal nannte ihn seinen Schattenwächter. Und weil Tal sein Blut bei einem Schwur mit Millas Blut vermischt hatte, war der Schattenwächter in der Lage gewesen, ihre Gestalt anzunehmen und ihre Wunden zu bedecken, bis die Schildjungfrauen gekommen waren.
Sie wünschte sich beinahe, dass das nicht geschehen wäre, denn Schatten mit einem eigenen Willen galten in den Legenden der Eiscarls als etwas Böses. Milla hoffte nur, dass sie nicht wegen der Berührung des Schattens als unrein eingestuft wurde und man ihr deswegen vielleicht die Mitgliedschaft bei den Schildjungfrauen verweigern würde.
Während Milla so über die Schildjungfrauen nachdachte, tauchte Arla, die Schildmutter der Hand, plötzlich aus der Dunkelheit auf und sprang mit einem Satz auf den Schlitten, ohne vorher die dünnen Knochenkufen abzulegen, auf denen sie über das Eis geglitten war.
Tal zuckte zusammen, als sie erschien. Arla war eine Spanne größer als er und die Art, wie sie sich bewegte, ließ auf ihre Gewaltbereitschaft schließen. Ihre Augen waren von einem Blau so kalt wie das Eis und sie blinzelte nie, wenn sie Tal ansah. An ihrem rechten Arm hatte sie grauenhafte Narben, von denen Milla erzählte, sie stammten vom Griff in die Kehle eines panzerhäutigen Kralls. Arla hatte der Bestie von innen die Kehle aufgeschlitzt.
Abgesehen von den kalten Augen verbarg sich hinter ihrer Maske eine Schönheit. Sie hatte kurzes, goldenes Haar, das ihr ovales Gesicht einrahmte. Auf Tal wirkte diese Kombination überaus eindrucksvoll.
„Nur Schildjungfrauen ist es erlaubt, den Eingang zum Ruinenschiff zu sehen“, sagte Arla und holte zwei lange Streifen Wreska-Haut aus einer der vielen Taschen ihres Übermantels. „Binde dir diese so fest wie du kannst über die Augen. Wenn du versuchst sie abzunehmen, wirst du mit dem Tode bestraft.“
„Muss ich auch eine tragen, Schildmutter?“, fragte Milla. Sie war bereits eine Schildjungfrauen-Kadettin. Die Mission, Tal zurück zum Schloss zu führen und einen neuen Sonnenstein für ihren Clan zu finden, würde eine richtige Schildjungfrau aus ihr machen.
„Du bist noch keine Schildjungfrau“, bemerkte Arla. „Wir beschäftigen uns hier mit den Dingen, die sind und nicht mit denen, die da erst kommen mögen.“
Milla zog eine Grimasse, sagte aber nichts. Sie nahm die Augenbinde und legte sie an. Tal tat dasselbe. Einen Moment war er versucht, sie hochzuschieben, damit er etwas sehen konnte. Immerhin war er ein Erwählter des Schlosses und hatte hier niemandem zu gehorchen. Doch etwas an der Art, wie Arla gesagt hatte: „… wirst du mit dem Tode bestraft…“ ließ ihn davon absehen.
Es hatte etwas Eigenartiges an sich, so ohne Sicht zu reisen. Doch Tal störte es nicht, solange er wusste, dass wieder Licht da sein würde, wenn er die Binde abnahm.
Sogar in den schlimmsten Augenblicken, die er außerhalb des Schlosses erlebt hatte, war immer wenigstens ein klein wenig Licht um Tal gewesen. Zum Beispiel von seinem Sonnenstein, der jetzt nur noch ein nutzloses Stück Stein war, seit er seine ganze Kraft aufgebraucht hatte, um das Merwin zu blenden. Millas zahlreiche Verwandtschaft auf dem Eisschiff hatte einen Sonnenstein gehabt, auch wenn er immer schwächer wurde. Tal hatte sich sogar an das blassgrüne Licht der Mottenlaternen gewöhnt, die die Eiscarls auch auf dem Schlitten mit sich führten.
Trotz der Tatsache, dass er ein Gefangener der Schildjungfrauen war, fühlte sich Tal erstaunlich sicher. Immerhin hatten sie ihn bisher vor Merwins, abtrünnigen Selski oder sonstigen üblen Eis-Kreaturen gerettet, die unterwegs waren. Und wenn er es erst einmal bis in das Ruinenschiff geschafft hatte, würde ihm die Mutter-Crone sicher seine Geschichte glauben und ihn nach Hause gehen lassen.
Beim Gedanken an sein Zuhause spürte wieder die alte Angst. Während seiner Abwesenheit hätte alles Mögliche geschehen können. Sein Vater Rerem war seit einiger Zeit verschwunden. Seine Mutter Graile war sehr krank. Sein jüngerer Bruder Gref war von einem Geistschatten entführt worden, als er Tal bei dessen verzweifelter Kletterpartie auf den Roten Turm gefolgt war. Und einige mächtige Erwählte im Schloss waren plötzlich Tals Feinde und er wusste nicht einmal weshalb.
Er hatte immer wieder versucht, sich einzureden, dass es nicht echte Feinde waren, sondern lediglich gelangweilte, schlecht gelaunte Erwählte. Doch tief in seinem Innern wusste er,
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