Der Siegelring - Roman
Ich hatte mich dafür nie sonderlich interessiert, das Leben hier und jetzt war immer viel zu aufregend gewesen. Aber jetzt … Warum sollte es keine Seelenwanderung geben? Die Vorstellung war genauso bewiesen oder unbewiesen wie Fegefeuer und Auferstehung zum Jüngsten Gericht oder die Schattenexistenz im Hades.
Sie hatte allerdings von allen Theorien die tröstlichsten Aspekte.
Ich stand auf und schaltete das Licht an. Plötzlich fühlte ich mich voller Energie.
Denn ein kleines Mosaiksteinchen war durch mein stummes Zwiegespräch mit meinem Vater ebenfalls wieder in mein Blickfeld gerückt. Vor einigen Jahren, ich hatte gerade mein Studium begonnen, hatte er mir ein Buch geschenkt. Es stammte, wie der Siegelring, aus dem Erbe seiner Mutter. Ein kostbares Geschenk war es, eines, das nun bei einem Konservator im Museum ruhte, wo es hingehörte. Ich nahm mir vor, Tommy, meinen alten Studienkollegen, am nächsten Tag anzurufen und ihn zu bitten, es mir für ein paar Untersuchungen zur Verfügung zu stellen.
Tommy war hilfsbereit. Ja, noch mehr - er hatte sogar das Original Blatt für Blatt fotografieren lassen und war bereit,
mir eines der vervielfältigten Exemplare zur Verfügung zu stellen. Es würde in den nächsten Tagen per Post eintreffen. Inzwischen hatte ich neue Kontakte für Rose hergestellt, die einen Besuch bei einem Unternehmen auf der anderen Rheinseite erforderten.
Es war für Anfang Januar viel zu warm, und ich hatte mir nur mein wollweißes Plaid übergeworfen, die moderne Form der römischen Palla, dachte ich amüsiert, als ich die Enden mit elegantem Schwung über die Schultern warf. Für meinen Termin mit dem Direktor des Kreditinstituts, das regelmäßig in seinem Foyer Ausstellungen regionaler Künstler präsentierte, hatte ich einige Unterlagen zusammengetragen. Marcs Fotos von Roses Glasobjekten bildeten den Grundstock für eine Präsentationsmappe, ich hatte ein paar Texte geschrieben und zusätzlich von Rose ein Bild hinzugefügt. Sie selbst scheute vor solchen Gesprächen noch immer zurück, darum übernahm ich sozusagen als ihre Managerin diese Aufgaben. Es zeigte sich, dass ich offensichtlich nicht schlecht darin war. Als Resultat des Gespräches würde sie ab Ostern einen Monat lang ihre Kunstwerke dort in einer sehr ansprechenden Atmosphäre ausstellen können. Auch der Rahmen für eine Vernissage war gegeben.
Der Termin passte mir sehr gut, denn in der kommenden Woche stand erneut ein Krankenhausaufenthalt an. Mein Oberarm war inzwischen so gut abgeheilt, dass eine Hautübertragung möglich war. Danach würden die schlimmsten äußeren Spuren des Unglücks vor einem halben Jahr einigermaßen beseitigt sein.
Ich war ausgesprochen guter Laune. Die Sonne schien warm durch die laublosen Bäume des Stadtparks, und ich entschloss mich spontan, ein bisschen durch die Geschäfte der Innenstadt zu bummeln. Vage hatte ich die
Vorstellung, eine Kleinigkeit für Cilly zu kaufen, als kleines Dankeschön für ihre aufopfernde Tipp-Arbeit der vergangenen Monate. Hier und da stoppte ich, verweilte, um mir ein paar Anregungen zu holen. Eine CD vielleicht, ein textiles Fummelchen nach der allerheißesten bauchnabelfreien Mode, ein kleines Schmuckstück? Vor einem der größeren Juweliergeschäfte blieb ich stehen und betrachtete die Auslagen. Schmuck nun gerade nicht, schoss es mir durch den Kopf. Bei einer Goldschmiedin als Mutter war das für Cilly nicht das geeignete Geschenk. Aber diese schrillen Uhren - ja, so etwas könnte passen.
Ich betrat den Laden, der recht gut besucht war, und schlenderte an den Vitrinen vorbei. An einer mit Uhren in den ausgefallensten Designs verharrte ich und versuchte, eine Wahl zu treffen. Neben mir stand ein groß gewachsener Mann, der mit einer Verkäuferin sprach. Er gab ihr seine Uhr, und sie verschwand in einem der hinteren Räume, während er wartete.
In der Standvitrine fand sich nichts, was mich begeistert hätte, und ich wandte mich der verglasten Theke zu, an der der wartende Kunde stand und unter der ebenfalls Uhren ausgestellt waren. Eine ältere Verkäuferin bemerkte wohl die Bewegung, kam herbei und fragte: »Sie gehören zusammen?«
Er drehte sich um.
Er trug eine hellgraue Wildlederjacke, einen dunkelblauen Rollkragenpullover und gleichfarbige Hosen.
Er hätte auch eine purpurgesäumte Toga tragen können.
»Gehören wir zusammen?«, fragte er mit einem Lächeln.
Lockige, schwarze Haare, ein kurz geschnittener Bart, beides von Grau
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