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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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verabreicht?
    Ich selbst hielt die Selbstmordtheorie für total idiotisch. Und ehrlich gesagt, die Mordtheorie genauso. Weiß der Himmel aber, wieso er, der ansonsten sogar eine Aspirintablette ablehnte, plötzlich derart schwere Psychopharmaka genommen hatte. Konnte es eine Verwechslung gewesen sein? Eine tragische, zufällige Verwechslung? Oder hatte es doch etwas mit seinen Neigungen zu spirituellen Erfahrungen zu tun? Hatte er diese Drogen genommen, um sein Bewusstsein zu erweitern? Hatte er vergessen, welche Nebenwirkungen das haben konnte und hat sich leichtsinnigerweise in seinem verwirrten Zustand ans Steuer gesetzt? Letzteres schien mir die einzige Erklärung zu sein. Was für ein unsinniger Tod.
    Aber - wäre er nicht gestorben, wäre ich jetzt Asche wie meine Freunde aus dem Flugzeug.

    Wäre er nicht gestorben, wüsste ich noch heute nichts von Rose. Und Rose war wirklich eine Bereicherung in meinem Leben.
    Wäre er nicht gestorben, hätte Rose nicht den wichtigen Schritt getan, sich zu ihrer künstlerischen Berufung zu bekennen.
    Wäre er nicht gestorben, hätte die Geschichte von Annik und Valerius nicht meine Gefühle derart aufgewühlt.
    Ich wagte ein Experiment an diesem Abend. Ulla, die mütterliche, die Freundin aus den Ferienanlagen, hatte einen leichten Hang zur Esoterik gehabt. Nicht so richtig mit Gläserrücken oder fremden Zungen reden, sondern sie liebte kleine, magische Rituale. Bei Kindern kam das ungeheuer gut an. Selbst die ungebärdigsten und wildesten konnte sie mit Räucherwerk, Kerzen, Klangschalen und leise gesummten Tönen ruhig stellen. Wir hatten uns manchmal darüber unterhalten, und jetzt fielen mir einige Dinge wieder ein. Ich fand ein paar Räucherstäbchen, Cilly hatte sie einmal mitgebracht zu unserer Erzählstunde, um das Jupiterritual sinnlich zu untermalen. Kerzen hatte ich sowieso immer im Haus, und eine CD mit leiser Entspannungsmusik fand sich ebenfalls im Arsenal.
    Ich machte mich bereit, einen Blick durch die Tore der Anderwelt zu werfen, wie Annik es an Samain getan hatte. Es mochte vielleicht nicht der traditionell richtige Tag dafür sein, aber dafür hatte ich Ullas Worte im Ohr, das manches auch nur aufgesetzter Hokuspokus sei an diesen Dingen. Es ging um einen offenen Geist, den man brauchte, um den Kontakt zu der anderen Welt herzustellen. Und der Geist öffnete sich in der tiefen Entspannung.
    Julian hatte Walnüsse geliebt. In der Weihnachtszeit
musste unbedingt eine große Holzschale voll mit ihnen auf dem Tisch stehen. Am dritten Advent war sie meistens leer. Ich mochte sie auch und hatte mir in den vergangenen Tagen einen Beutel mit Nüssen gekauft. Zwei von ihnen knackte ich und legte die kleinen Gehirne, die sich in den Schalen verbargen, säuberlich in eine Glasschale von Rose. Meine Opfergabe. Mein Verbindungsglied zu ihm.
    Als ich den Tisch mit alldem gerichtet hatte, die Musik den Raum mit sphärischen Klängen füllte, die Kerzen warmes Licht verbreiteten und der duftende Rauch emporstieg, löste ich meine Haare und begann unbeholfen meine Rede an ihn.
    Ich weiß nicht mehr, was ich alles sagte, ich weiß nicht, wann ich anfing zu weinen, ich weiß auch nicht mehr, wann es still um mich wurde. Es erschien kein Geist, es hallten keine Stimmen in meinen Ohren. Aber es tauchten Bilder aus den Tiefen meiner Seele auf. Manche waren Erinnerungen, andere schienen bisher nie gesehene Bilder zu sein. Und dann kam eines, das mich erschütterte. Es war dasselbe, das ich gesehen hatte, als das Flugzeug abstürzte, kurz bevor mich die Trümmer trafen und ich das Bewusstsein verlor.
    Das brennende Dorf, ein Lagerhaus in Flammen und das explodierende Munitionslager waren wieder da. Und das unendlich vertraute Gesicht, das sich über mich beugte. Valerius?
    Die Kerzenflamme verlöschte mit einem leisen Zischen, es war dunkel im Raum. Auch die Musik war verklungen.
    Ich reckte mich langsam, rieb mir die Augen. Diese Szenen hatte ich vergessen, wie ich so vieles von dem Unglück hatte vergessen wollen. Woher kamen sie? Waren es Erinnerungen an Julians Erzählungen? Das
Dorf in Flammen bestimmt, das Lagerhaus - möglich. Das Militärdepot gewiss nicht.
    Und dann fiel mir noch etwas ein. Die beiden Worte, die ich kurz vor dem Verlust meines Bewusstseins gehört hatte.
    »Diesmal nicht!« Julians Stimme!
    Gänsehaut zog sich über meine Armen. Déjà-vu - schon einmal gesehen. Schon einmal gelebt? Mehrmals gelebt? Julian hatte es, wie die Gallier früher, geglaubt.

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