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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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kam es nicht. Im Laufe des Vormittags wurde der grotesk verdrehte Körper des toten Silbermannes von seinen Leuten auf eine Bahre gebettet und fortgeschafft. Er sollte in seiner Wohnhöhle eingemauert werden. Thomas Sose war außer sich. Er protestierte lautstark, forderte die Beschlagnahmung der Leiche und eine gründliche Obduktion durch den Expeditionsarzt, aber niemand hörte auf ihn: Yeremi nicht – die unter Sarafs fragenden Blicken am liebsten im Boden versunken wäre – und die Silbernen schon gar nicht. Lediglich eine Fotoserie, die Block nach einem tiefen Schluck aus Unsworth’ Cognacflasche angefertigt hatte, konnte der Ministerialbeamte zur Beweissicherung konfiszieren. Er kündigte ein Nachspiel an.
    Nie zuvor hatte Yeremi bei einer Expedition ein solches Desaster erlebt. Wie sollte sie jemals das Vertrauen des Silbernen Volkes zurückgewinnen? Erst als Al Leary ihr eine nahe liegende Frage stellte, sah sie einen Lichtblick.
    »Hast du eine Idee, wer der Mörder sein könnte?«
    Benommen starrte sie den Psychologen an. »Wer sagt, dass es ein Mord war? Ugranfir könnte doch versehentlich von dem Felsen gestürzt sein.«
    »Mach dich nicht lächerlich, Yeremi! Die Silbernen leben seit Generationen hier. Dieses Terrain ist ihnen ebenso vertraut wie dir deine Veranda in Pacific Grove.«
    Ein durchaus stichhaltiges Argument, dachte Yeremi. »Wenn man von der Verwirrung absieht, die unser Auftauchen hier verursacht hat, scheinen mir die Silbernen ein sehr friedfertiges Volk zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen…« Sie schüttelte den Kopf.
    »Der Konflikt zwischen Saraf Argyr und Ugranfir war offensichtlich.«
    »Du meinst, Saraf…?«
    »Es könnten auch die Wai-Wai-Indianer gewesen sein, nachdem ihr erster Anschlag gestern Abend so schmählich beendet wurde.«
    »Aber hätten sie dann nicht den Hüter angreifen müssen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
    »Im Grunde könnte es jeder von uns gewesen sein, so aufgeheizt, wie die Stimmung in den letzten Tagen war.«
    »Nicht jeder – ich war es bestimmt nicht.«
    »Meinst du etwa, ich… ?« Leary hielt sich die Hände vor die Brust und machte ein entrüstetes Gesicht.
    Yeremi sah nachdenklich in seine Unschuld heischende Miene. »Wir wissen noch viel zu wenig über das Silberne Volk. Als ich mich vorhin mit Abby über die Beisetzung von Ugranfir in einer Höhlenkammer unterhielt, kam sie wieder auf ihr Lieblingsthema zu sprechen, die Guanchen. Die Ureinwohner der Kanaren sahen im Tod eine natürliche Folge des Lebens, möglicherweise sogar nur eine Art Übergangsstadium in eine andere Daseinsform. Es ist geschichtlich bezeugt, dass hochbetagte Leute ihren Todestag selbst bestimmten, indem sie ›Vacaguare!‹ ausriefen: ›Ich möchte sterben!‹ Anschließend zogen sie sich mit einer Schale vergifteter Milch in eine abgelegene Höhle zurück, die später von den Angehörigen zugemauert wurde – ganz ähnlich wie im Falle Ugranfirs.«
    »Der Silbermann kam mir nicht wie jemand vor, der freiwillig in den Tod gehen würde, und alt war er auch nicht.«
    »Würdest du ihn als stolz charakterisieren oder als Menschen mit übersteigertem Ehrgefühl?«
    »Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben. Was denkst du?«
    »Nun, mir erschien er durchaus als ein Mann, auf den diese Eigenschaften zutreffen könnten. Abby erzählte mir vom Guanchenkönig Bentor auf Teneriffa, der sich nach einer verlorenen Schlacht bei Acentejo von einer Klippe in den Tod stürzte. Diese Art des Freitodes war üblich unter den Guanchen und wurde nicht selten bereits dann praktiziert, wenn eine Niederlage sich nur abzeichnete.«
    Der Psychologe nickte. »Eine andere Art von Harakiri, wenn man so will. Klingt gar nicht so abwegig, Jerry! Durch den Vorfall gestern Abend wäre beinahe ein Silbermann ums Leben gekommen. Möglicherweise hatte Ugranfir dadurch sein Gesicht verloren und konnte seine Ehre nur durch den Freitod wiederherstellen.« Er klatschte die Hände zusammen. »Das ist es! Mit dieser Erklärung wären wir aus dem Schneider.«
    Yeremi verachtete Leary für seine Art, mit dem Tod anderer Menschen umzugehen. »Wir wissen nicht, ob es so war.«
    »Deine Version des Zwischenfalls wird Mr Sose und seinen Minister zufrieden stellen, das allein ist entscheidend.«
    »Und wenn sich herausstellt, dass Ugranfirs Tod eine andere Ursache hatte, eine, die für uns, die wir die Zivilisation auf unseren Bannern tragen, zu ungeheuerlich ist, um sie überhaupt…« Yeremis

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