Der silberne Sinn
Teammitglieder nahm zu, sondern auch ihr Verlangen nach Liebe und Anerkennung. Doktor Percey Montague Lytton, bisher ein eher zurückhaltender Charakter, wurde von Tag zu Tag neugieriger und ziemlich albern. Norryl Unsworth befiel über Nacht eine erschreckende Appetitlosigkeit. Bisweilen traten die Gefühle überraschend heftig zu Tage. Launenhaftigkeit und Angstzustände wechselten sich ab, und Streitsucht wich übertriebenem Harmoniebedürfnis.
Am vierzehnten Tag der Höhlenentdeckung kam es beinahe zur Katastrophe. Drei Wai-Wai-Indianer legten sich während eines Wolkenbruchs auf dem Dach des Waldes in einen Hinterhalt. Sie griffen sich den Erstbesten, einen Silbermann, der in der Dämmerung jagen wollte. Während zwei Wai-Wais den Mann auf den nackten Fels drückten, riss der dritte sein Messer aus der Scheide, um dem »bösen Geist« das Herz aus dem Leib zu schneiden. Plötzlich wurde das Handgelenk des Indianers gepackt und sein Körper wie eine Strohpuppe davongeschleudert. Als die beiden anderen Saraf Argyrs Gestalt über sich aufragen sahen – hinter ihm zuckten Blitze über den Himmel –, verließen sie den Schauplatz in kopfloser Flucht.
Yeremi hatte nachher alle Mühe, den Hüter des Silbernen Volkes zu besänftigen. Er war mitten ins Lager gestampft und hatte nach ihr und dem Dolmetscher verlangt. Sie stand vor ihm im Regen und sah nicht nur aus wie ein begossener Pudel. Seinen unangenehmen Fragen fügte Thomas Sose weitere hinzu. Dicker Zigarrenqualm umfächelte die linke, von einem verbogenen Taschenschirm trocken gehaltene Gesichtshälfte des kleinen Beamten, während er sich nach Kräften aufregte: Überdies müsse er als Vertreter der guyanischen Regierung schärfstens protestieren – seine Stimme nahm an Schrillheit zu –, sogar allerschärfstens! Was würde die Presse schreiben? Es wäre ein Skandal, wenn der Silbermann das Leben verloren hätte.
»Nein, es wäre Mord«, erwiderte Yeremi ruhig und ließ Sose im Regen stehen.
Obwohl es ihr widerstrebte, ersuchte sie Leary um eine Unterredung. Seine Erklärung für die seltsamen Vorgänge überraschte sie nicht.
»Warum wunderst du dich? Wir haben es hier mit einem Volk empathischer Telepathen zu tun. Faszinierend, wie subtil sie ihren Silbersinn einsetzen!«
»Und dadurch beinahe eine Katastrophe heraufbeschworen hätten. Was sollen wir jetzt tun? Die Indianer kann ich kaum noch zur Räson bringen, und der Rest des Teams wird sich demnächst gegenseitig an die Gurgel gehen.«
»Anscheinend ist Ugranfirs Partei wieder aktiv geworden. Das Beste wird sein, Saraf Argyr erneut um Intervention zu bitten.«
»Womit wir weiteren Unfrieden stiften werden. Mir gefällt das ganz und gar nicht, Al. Die Dinge geraten uns außer Kontrolle. Vielleicht sollte ich die Expedition abbrechen.«
»Und damit die Chance deines Lebens aus der Hand geben? Probleme lösen sich nicht durchs Davonlaufen, man muss sie entschlossen anpacken. Dir ist das ebenso klar wie mir.«
Yeremi schwieg. Der Regen rann über ihr Gesicht, die Haare klebten wie Algen an ihrem Kopf, und sie suchte in Learys beschwörendem Blick nach einer rettenden Idee. Im Grunde hatte er Recht, und sie wusste es.
Die Morgensonne malte Lichttupfer auf den Waldboden am Fuße der Felswand, quirlige helle Kleckse, die dem Betrachter eine heitere Stimmung vorgaukelten. Doch das Bild war trügerisch. Wenn der Wind durch die Baumwipfel rauschte, leuchteten blutrote Flecken in dem Gemälde auf. Und als eine heftige Windböe ein Fenster in das Blätterdach schlug, zerstörte ein grauenvoller Anblick vollends die Stimmung.
Ugranfirs zerschmetterter Leichnam lag auf dem Waldboden. Wachana Yaymochi hatte ihn entdeckt. Normalerweise wäre das tote Mitglied des Großen Rates sogar noch länger unbemerkt geblieben, weil die Fundstelle vom Lager aus nicht einsehbar war, doch der Indianer hatte sich für neun Uhr mit Yeremi und Leary unterhalb vom Dach des Waldes verabredet. Gemeinsam wollten sie den Silbernen einen Besuch abstatten, um über den Anschlag des vergangenen Abends zu beraten und sich für eine friedliche Fortsetzung der Forschungsarbeit zu verwenden. Daran war vorerst nicht mehr zu denken.
Doktor Lytton konnte nur feststellen, woran ohnehin niemand zweifelte. Der Sturz habe Ugranfir getötet. Anzeichen von Gewaltanwendung seien, sofern man dies auf die Schnelle überhaupt sagen könne, nicht zu finden. Ein abschließendes Urteil wolle er jedoch erst nach einer Autopsie fällen.
Dazu
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