Der silberne Sinn
Stimme war immer leiser geworden, bis sie schließlich ganz versagte.
Leary wartete mit offenem Mund, hoffte, dass ihre Sprache zurückkehrte, fragte dann aber doch: »Woran denkst du?«
»Es könnte sich um ein Menschenopfer gehandelt haben«, antwortete sie zögernd. »Auch für das rituelle Töten durch Herabstürzen von hohen Felsen gibt es zahllose Vorbilder.«
»Aber doch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert!«
»Nach Meinung einiger Kollegen werden von der Indiobevölkerung Südamerikas sogar heute noch an bestimmten Plätzen Menschenopfer dargebracht. Wir dürfen eines nicht vergessen: In gewisser Hinsicht lebt das Silberne Volk noch im Mittelalter oder sogar in einer noch früheren Epoche. Was mich allerdings stutzig macht, ist die Person selbst: Ugranfir. Ein Mitglied des Großen Rates!«
»Meines Wissens nach wurden oft Kriegsgefangene oder Verbrecher als Opfer ausgewählt. Mir klingen noch Sarafs Worte in den Ohren: ›Die Schuldigen, die euch heute Nacht vertreiben wollten, sind mir bekannt, und sie werden für ihr Vergehen bestraft.‹ Ja, das reimt sich zusammen! Ugranfir war allem Anschein nach der Hauptverschwörer. Percey hat keine Anzeichen von Gewaltanwendung an dem Leichnam entdeckt. Vermutlich hat das Silberne Volk den Delinquenten durch empathischen Zwang zum Sprung von dem Felsen genötigt. «
Yeremis finstere Miene verriet, wie wenig sie von diesem Szenario hielt. Nachdenklich saugte sie an ihrer Unterlippe, bevor sie, erst sacht, dann immer überzeugter, zu nicken begann. »Möglicherweise haben wir durch Ugranfirs Tod aber auch eine Antwort auf eine unserer drängendsten Fragen bekommen.«
Learys Stirn legte sich in Falten. »Wovon sprichst du überhaupt?«
»Von dem merkwürdigen Umstand, dass es unter dem Silbernen Volk keine alten Menschen gibt.«
DIE HEIMSUCHUNG
Wassarai Mountains (Guyana)
10. November 2005
6.37 Uhr
Sturm zog auf im Garten Gottes. Nicht der übliche Gewitterschauer braute sich da zusammen, mit dem sich Yeremi längst arrangiert hatte, sondern ein Unwetter von ganz anderer Art.
In der ersten Morgendämmerung des 10. November, ein wolkenverhangener Donnerstag, öffnete sich eine weitere Pforte in Yeremis Erinnerungskerker, um vorzeitig und ziemlich überraschend einen unbequemen Insassen aus lebenslanger Vergessenheit zu entlassen. Auslöser war ein Geräusch. Zuerst konnte sie es nicht orten. Die Luft schien zu beben. Dann hörte Yeremi das dumpfe Rattern!
Keinen Mucks!
Die Worte hallten aus dunkler Ferne durch ihren Geist. Yeremi wusste nichts mit ihnen anzufangen. Sie spürte heftige Angst und konnte sich nicht erklären, warum. Spätestens nachdem Thomas Soses Vorgesetzter am vergangenen Mittag über das Satellitentelefon zurückgerufen und die Abholzung sämtlicher großer Bäume rund um das Dach des Waldes befohlen hatte, wusste sie, was geschehen würde. Allerdings wunderte sie sich über das Tempo, mit dem die Regierung ihre Armee in Marsch gesetzt hatte.
Die Wai-Wai-Indianer waren tags zuvor geradezu darauf versessen gewesen, den Spuk der letzten Zeit mit Äxten, Macheten und Sägedrähten zu bekämpfen. Die aufgestauten Ängste und Aggressionen entluden sich an sechs oder acht schlanken Stämmen. Andere Bäume kamen mit Verstümmelungen davon, weil ihnen ohne Motorsägen in der knappen Zeit nicht zu Leibe zu rücken war. Rings um das Dach des Waldes vollzog sich stundenlang derselbe Anblick: Wie Spiralfedern, die sich zusammenzogen und wieder auseinander schnellten, glitten die Indianer an den Stämmen hinauf. Als Steighilfe diente ihnen das bushrope, ein zähfaseriges Stück Liane, das zu einer Acht geflochten war. Oben angelangt, klebten sie in schwindelnder Höhe an den Bäumen, in zerrissenem T-Shirt und Fußballershorts oder kurzen Jeans, ohne Schutz vor Wespen und Ameisen, und hackten auf Äste ein, die unter jedem Schlag erbebten – bis sie schließlich in die Tiefe stürzten…
Der Wald der Wassarais war zwar abgeschieden von der Welt, aber keineswegs aus der Welt. Nicht einmal zweiundzwanzig Stunden nach dem Auffinden von Ugranfirs Leiche landete der erste Hubschrauber des guyanischen Air Corps auf dem geräumten Felsplateau oberhalb der Steilwand.
Die Dämmerung mit ihrem trügerischen Licht, der dampfende Dschungel, das klopfende Geräusch des Helikopters und zuletzt dessen Anblick – all diese Eindrücke versetzten Yeremi in jene schreckliche Nacht vor siebenundzwanzig Jahren zurück, in der sie Rettung
Weitere Kostenlose Bücher