Der silberne Sinn
eine empathische Gabe, Jerry. Spürst du das denn nicht?«
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was soll ich fühlen?«
»Offen gestanden, beginne ich allmählich an dir zu zweifeln.«
»Wie ist das nun wieder gemeint?«
Leary sah aus, als bedauere er seine letzte Äußerung. »Nichts. Gar nichts.«
»Was geht in deinem Kopf vor, Al?«
»Sag du es mir, Jerry.«
»Anscheinend leidest du unter Halluzinationen. Ich bin kein Telepath, das kann ich dir versichern.«
»Hast du dir noch nie gewünscht, auf die Emotionen anderer Einfluss nehmen zu können?«
»Ausgerechnet du musst mich danach fragen! So etwas wäre das Letzte für mich. Allein der Gedanke, jemand könne in meinen Gefühlen herumrühren, macht mich wahnsinnig.«
Leary nickte gewichtig. »Allmählich wird mir so einiges klar.«
»Hört, hört, der Psychologe spricht!«
»Du verschließt die Augen vor den Tatsachen, Jerry. Das ist unwissenschaftlich.«
»Und du bist so sehr auf diese eine Erklärung fixiert, dass du von vornherein jede andere ausschließt. Willst du etwa behaupten, das wäre wissenschaftlicher?«
»Nenne mir eine andere Ursache für unsere Beobachtungen.«
»Was weiß ich!«
»Siehst du.«
Yeremi ballte die Fäuste, beherrschte sich aber. »Es existieren noch eine Menge anderer Dinge, die ich nicht verstehe.«
»Aber das ist doch meine Rede, Jerry! Die empathische Telepathie mag uns vom gegenwärtigen Kenntnisstand…«
»Man hat in Abertausenden von Sektionen beim Menschen noch nie ein empathisches Organ entdeckt, Al – das ist der Stand der Wissenschaft.«
Leary lächelte überlegen. »Als Jurij Gagarin 1961 als erster Mensch die Erde umrundete, sagte er, es könne keinen Gott geben, weil er ihn nicht gesehen habe.«
»Jetzt redest du schon wie mein Großvater. Mit dieser ganzen Debatte drehen wir uns doch nur im Kreis. Wir haben erstklassige Leute in unserem Team. Medizin, Pharmakologie, Botanik – alle wichtigen Fachgebiete sind abgedeckt. Nutze diese Ressourcen, aber verlange bitte nicht von mir, der Welt angebliche Forschungsergebnisse zu präsentieren und sie mit Träumen zu erklären. Beim Fachpublikum könnte das ziemlich schlecht ankommen.«
Leary fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Also gut, du willst Beweise haben, und du sollst sie bekommen.«
Einige Tage lang gab sich Yeremi der Illusion hin, alles im Griff zu haben. Die Albträume kehrten nicht wieder. Der von Saraf gescholtene Ugranfir und seine Anhänger gingen den Forschern aus dem Weg. Al Leary konzentrierte sich ganz auf sein großes Ziel, die Erforschung der empathischen Telepathen. Hin und wieder verschwand er mit Wachana allein in den Höhlen, um den Silbernen ihre Geheimnisse zu entreißen. Wie bündelten sie ihren Silbernen Sinn? Konnten sie jede Art von Gefühlen wecken? Auf welche Weise nahmen sie selbst die Empfindungen anderer Menschen wahr? Benutzten sie Pflanzenextrakte, um ihre Gabe zu verstärken?
Yeremi widmete sich den, wie sie meinte, wichtigeren Fragen. Neben wechselnden Spezialisten waren Wachana und Irma Block hierbei fast immer an ihrer Seite. Gelegentlich führte Saraf Argyr die Gruppe durch sein Reich, aber meistens stellte er für die Erkundungstouren Adma ab. Yeremi begrüßte diese Entscheidung, denn mit jedem neuen Hinweis auf die empathischen Fähigkeiten des Silbernen Volkes wuchsen ihre Vorbehalte gegen dessen Hüter. Leary propagierte schon offen die Überzeugung, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Existenz eines »empathischen Senders« nachweisen könnte – so nannte er »die Bündelung der Kräfte einer Gruppe von Silbernen zum Hervorrufen von Albträumen oder anderer emotionaler Phänomene«. Vordergründig zeigte sich Yeremi von Learys Argumenten unbeeindruckt, obwohl ihr seine Worte keine Ruhe ließen. Warum hatte er sie so eindringlich nach ihren Empfindungen ausgehorcht? Obgleich sie ihre Gefühle vor ihm und vor sich selbst zu leugnen suchte, spürte sie doch unbewusst, wie stark der Silberne Sinn in Saraf Argyr wirkte. Natürlich erwähnte sie Leary gegenüber nichts davon. Allein die Möglichkeit, von Saraf Argyr manipuliert zu werden, versetzte sie in Angst und Schrecken.
Die Beziehung zwischen Yeremi und Adma war in den neun Tagen seit dem ersten Betreten der Höhlen des Orion immer freundschaftlicher geworden. Als die Expeditionsleiterin an einem Freitag mit Block, Hamilton-Longhorne und Wachana von der Besichtigung einer unterirdischen Schmiede in die Halle der Begegnungen
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