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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zurückkehrte, machte ihr die Silberfrau ein überraschendes Geständnis.
    »Ich wünschte, ich könnte den Hüter trösten.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Yeremi und sah Wachana gespannt an, weil sie dessen Übersetzung kaum erwarten konnte.
    »Weil er sich die Schuld für den Tod meiner Schwester gibt.«
    »Deiner…? Du sprichst von Fama, nicht wahr?«
    Adma nickte traurig. »Ich empfinde große Zuneigung für Saraf, so wie ich auch meine Schwester sehr geliebt habe.«
    Yeremi verharrte mitten im Schritt. Ihre Augenbrauen rückten zusammen, während sie die Silberfrau durchdringend ansah. »Mir scheint, deine Gefühle sind stärker als solche, die man für einen Bruder empfindet.«
    Adma war ebenfalls stehen geblieben und senkte den Blick.
    Yeremi verstand auch ohne Worte, was in der Silberfrau vorging. »Hat Fama sein Kind unter dem Herzen getragen?«
    Erschrocken sah Adma zu ihr auf. »Saraf vertraut mir, und ich möchte nicht…«
    »Und was?«
    »Nichts.«
    »Du würdest gerne an die Stelle deiner Schwester treten, nicht wahr?«
    Admas meerblaue Augen weiteten sich. »Besitzt du auch den Silbernen Sinn?«
    Yeremi lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Nein, Adma. Ich bin nur eine Frau, aber das ist manchmal auch ganz hilfreich.« Weil sie ihre Gastgeberin nicht weiter in Verlegenheit bringen wollte, nutzte sie das Thema geschickt für eine Frage, die dem Team schon länger Kopfzerbrechen bereitete.
    »Es muss wunderbar sein, wenn das Echo von lachenden Kindern durch eure Höhlen hallt. Wie lange ist es her, seit du es das letzte Mal gehört hast?«
    Adma zögerte. »Schon viele Jahre«, antwortete sie schließlich.
    »Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«
    »Die Kinder des Silbernen Volkes sollen leben.«
    »Ja, natürlich sollen sie das…« Die Antwort brachte Yeremi für einen Moment völlig aus dem Konzept.
    Hamilton-Longhorne ahnte wohl, was Admas merkwürdige Äußerung andeutete. »Hat es in eurer Vergangenheit ein Unglück gegeben, bei dem eure Kinder zu Schaden gekommen sind?«
    Admas Gleichmut schien nun völlig aus der Balance zu geraten. Hilflos irrte ihr Blick zwischen den beiden Frauen und Wachana umher.
    Yeremi legte schnell ihre Hand auf Admas Arm. »Du musst jetzt nicht darüber sprechen. Dennoch wundert es mich, in den Höhlen auch keine alten Menschen zu sehen. Sind sie an einer Krankheit gestorben? Können wir uns eure Begräbnisstätte ansehen?«
    Die Silberfrau starrte Yeremi an, als hätte sie die Frage nicht verstanden.
    »Irgendwo müssen sie ihre Toten doch bestatten«, murmelte Block.
    Yeremi drückte Wachanas Hand und schüttelte unmerklich den Kopf, damit die nachfolgenden Worte unübersetzt blieben. »Nicht unbedingt«, flüsterte sie in Richtung der Fotografin.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Vielleicht essen die Hinterbliebenen sie auf.«
    Blocks Kinnlade sackte herab. »Das ist nicht dein Ernst!«
    »Bei den brasilianischen Wari-Indianern galt es noch in den Sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts als Ausdruck des Mitgefühls, die Verwandten nach ihrem Ableben zu verspeisen.«
    »Das ist ja…!«
    »Fremd?«, bot Yeremi an. »Ich nenne es ›sozialen Kannibalismus‹. Den Toten zu essen bedeutet, sich Leid zu ersparen. Im Weltbild der Wari sichert jeder Verzehrte das Fortleben des Stammes: Die vom Körper befreite Seele kann sich so in die Tierwelt aufmachen und mit etwas Glück als neues Glied in der Nahrungskette wiedergeboren werden – als Nabelschwein oder Gürteltier oder was auch immer. So betrachtet, landet jeder Wari womöglich sogar zweimal in den Mägen seiner Lieben.«
    Block musterte die Silberfrau wie eine gestrandete Feuerqualle.
    Die Veränderung vollzog sich unmerklich, fast wie eine natürliche Entwicklung. Von früheren Expeditionen her kannte Yeremi jenes Phänomen, das gemeinhin als Lagerkoller bekannt war: Selbst die diszipliniertesten Wissenschaftler gingen sich irgendwann gegenseitig auf die Nerven. Mitten im Dschungel gab es wenig Abwechslung. Tagein, tagaus sah man dieselben Gesichter, hörte dieselben Frotzeleien, litt unter denselben Marotten. Hinzu kamen die brütende Hitze, die selbst in der Nacht kaum erträglicher wurde, die Moskitostiche und das Gefühl, ständig am Rande der Erschöpfung zu balancieren. Als daher die ersten Wissenschaftler aufeinander losgingen, maß Yeremi dem noch keine größere Bedeutung bei.
    Bald begann sie jedoch an ihrer Koller-Theorie zu zweifeln. Nicht nur die Reizbarkeit und Aggressivität einiger

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