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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hielt und langsam vor seiner Lupe drehte. Vor ihm stand eine Aluminiumkiste und auf dieser lag Pulse – das schärfste Magazin Guyanas.
    »Hi, Dave, seit wann studierst du Softpornos?«
    Der Botaniker blinzelte durch die Brille. Offensichtlich wusste er nicht, wovon sie sprach.
    Yeremi deutete mit dem Kinn auf das Erotikmagazin.
    Clarke grinste. »Ach das! Hab ich noch gar nicht bemerkt. Die pralle Lola ist nur Makulatur, um meine Miss Regenwald hier aufzubewahren. Du weißt ja…«
    »Sammeln ist der Anfang der Erkenntnis«, wiederholte Yeremi schmunzelnd, was sie in den letzten Wochen schon oft von ihm gehört hatte. »Was ist das für eine Schönheit?« Jetzt zeigte sie auf die Blume.
    »Ein Veilchen. Gattung Rinorea, Familie Violaceae.«
    »Du kannst mir viel erzählen! So ein Veilchen habe ich noch nie gesehen.«
    »Wie sieht denn deiner Meinung nach ein Veilchen aus?«, fragte Clarke spitz.
    »Fingerlang, lilafarben, zart. Wenn meine Urgroßmutter sie von ihrem Verlobten bekommen hat, fing der Frühling an.«
    »Vermutlich war das nicht in Britisch-Guayana.«
    »Nein, in Malmö.«
    »Nun, hier haben wir ‘s mit einer Viola odorata zu tun. Sie ist untypisch für die Violaceae-Familie. Gehört zur einzigen Gattung, die auch auf der anderen Seite des Atlantik anzutreffen ist. Europa ist ein Witz, wenn es um Pflanzenvielfalt geht. Hier wachsen die Veilchen in den Himmel. Rinorea wird acht bis zehn Meter hoch.«
    »Hoffentlich gehen dir die dicken Lolas nicht aus, bevor du deine Viola neu eingekleidet hast.«
    Clarke lachte schallend. »Keine Sorge. Hier ist noch eine ganze Kiste davon. Die Magazine sind so miserabel, dass sie in Georgetown keiner haben wollte.«
    »Na, wenigstens weißt du dich zu beschäftigen. Leary hat dich bisher ja nicht gerade mit Arbeit überschüttet.«
    »Nein, das kann man wirklich nicht behaupten. Vielleicht ändert’s sich ja demnächst. Heute früh sagte er zu Norryl und mir, wir sollten uns bereithalten, ihm einen großen Kübel Zaubertrank zu brauen.«
    »Zaubertrank? Hat er dieses Wort wirklich gebraucht?«
    »Nicht direkt. Er nannte es ›Super-Telepathin‹ oder so ähnlich. Du kennst ja seine Neigung zu exorbitanten Termini.«
    »O ja, die ist mir bestens vertraut! Hast du eine Ahnung, woher Al seine Zuversicht nimmt?«
    »Nicht die Bohne. Muss wohl irgendetwas von den Silbernen aufgeschnappt haben, das ihn wieder mal euphorisch gestimmt hat. Wir werden’s schon noch erfahren. Er kann seine wilden Theorien ja nie lange für sich behalten.«
    Jetzt musste auch Yeremi lachen. »Manchmal sind sie ja recht unterhaltsam.«
    Clarke sah sie schmunzelnd an. »Schön, dich wieder scherzen zu hören, Yeremi.«
    Das Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. »Versprich dir nicht zu viel davon, Dave.«
     
     
    In der Nacht wälzte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere. Ein beunruhigender Traum schüttelte sie, nicht vergleichbar mit den anderen, die ihr zuvor Angst und Schrecken eingejagt hatten. Vielmehr handelte es sich um einen dissonanten Akkord bedrückender Gefühle, der – ähnlich dem Fehlgriff auf der Klaviatur eines Pianos – weder durch Worte noch durch klare Konturen zu beschreiben war. Der kalte Ton der Angst schwang darin, aber auch das Vibrato der Verwirrung und das Moll der Hoffnungslosigkeit. Ein fremdes Geräusch, diesmal ein echtes, wie es schien, ließ Yeremi hochschrecken.
    Sie lauschte. Aber da war nichts. Nur die übliche Intonation des Regenwaldorchesters. Sie kniff sich in den Arm und rang mit zusammengebissenen Zähnen vor Schmerz nach Luft. Also kein Traum, dachte sie und fasste sich an die schweißnasse Stirn. Hatte sie Fieber? Nein, es war vermutlich nur die Hitze der tropischen Nacht. Aber warum fröstelte sie dann? Weil sie schlecht geträumt hatte. Yeremi seufzte und ließ sich bleischwer zurück auf ihr Lager sinken.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich matt und krank. Mühsam drehte sie sich auf die andere Seite. Ihre Glieder schienen in einer Streckbank zu hängen, selbst im Kopf spürte sie ein lästiges Ziehen. Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an die vergangene Nacht. Da war dieser Traum – sie konnte sich an keine Einzelheiten erinnern –, die schweißnasse Stirn, das Zittern…
    Yeremi führ von ihrer Schlafmatte hoch, als habe sie einen Skorpion im Bett. Obwohl ihr Körper nach einer Auszeit schrie, begann sie sich in ihre Hose zu quälen. Als sie, auf dem rechten Fuß stehend, den linken in das Hosenbein

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