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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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einfädeln wollte, wurde ihr plötzlich schwindelig. In dem verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht zu halten, führte sie einige bange Augenblicke lang einen grotesken Tanz auf. Ihr angewinkeltes Bein steckte in der Jeans fest, an einen rettenden Ausfallschritt war nicht zu denken. Also hüpfte sie durch ihr Zelt – zwei, drei kurze Sprünge – und landete zuletzt auf ihrem Schuh. Wie ein gefällter Baum fiel sie lang hin und prallte dabei mit dem Kopf gegen eine Aluminiumkiste.
    Der dumpfe Schlag raubte ihr fast die Besinnung. Einen Moment lang sah sie nur Sterne. Ein warmer Schwall von Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie richtete sich zum Sitzen auf und kämpfte gegen den Brechreiz an, indem sie die Arme hob und tief Atem holte. Mit einem Mal fühlte sie ein Brennen auf ihrem Kopf. Entsetzt blickte sie an sich herab. Ihr gelbes, als Nachthemd zweckentfremdetes langes T-Shirt war mit feuchten roten Flecken übersät, und immer noch tropfte weiteres Blut darauf herab. Entsetzt suchte Yeremi nach der Wunde und wurde schnell fündig. Sie befand sich dicht über der Stirn. Ein absurder Gedanke zuckte ihr durch den Kopf: Mein Lieblings-Snoopy-Schlaf-T-Shirt!
    Im Sitzen schaffte sie es endlich, sich die Hose und dann auch die Schuhe anzuziehen. In Ermangelung besserer Alternativen drückte sie zwischendurch immer wieder einen sauberen weißen Slip auf die Wunde. Taumelnd verließ sie das Zelt. Ihr Ziel war das Quartier von Percey Lytton und Norryl Unsworth. Der Arzt saß unter freiem Himmel an einem von zwei Klapptischen, vor sich sein Notebook, und las kopfschüttelnd die gerade über Satellit eingetroffene Tagespresse. Er wirkte beunruhigt. Als er Yeremi entdeckte, steigerte sich dieser Ausdruck in seinem Gesicht noch.
    »Was haben Sie denn angestellt?«
    Yeremi ließ sich von ihm zu einem Stuhl führen, den Unsworth schnell zurechtgerückt hatte. Noch ganz benommen, schilderte sie den Hergang des Unfalls. Lytton untersuchte derweil die Wunde. – »Sie haben Glück gehabt, meine Liebe: Ist nur eine oberflächliche Hautläsion, das, was man irrigerweise als Platzwunde bezeichnet. Lässt sich problemlos klammern. Allerdings liegt sie knapp über dem Haaransatz. Ich werde Ihnen eine Ihrer hübschen blonden Locken abrasieren müssen. Aber das können Sie mit dem, was ich Ihnen lasse, problemlos kaschieren…« Der Arzt sprach ruhig und in kurzen Sätzen, er wusste genau, was seine aufgeregte Patientin jetzt brauchte, oder zumindest glaubte er das.
    In dem Bemühen, sie während der medizinischen Versorgung abzulenken, deutete Lytton mit einem blutigen Tupfer kurz auf seinen Computer und sagte: »Ein Skandal ist das! Norryl, drehen Sie den Bildschirm doch mal herum, damit unsere Patientin hier sich das ansehen kann.« Der Pharmakologe tat ihm den Gefallen. »Schauen Sie nur«, fuhr Lytton an Yeremi gewandt fort. »Die Mafia hat heute Nacht den russischen Verteidigungsminister ermordet. Der General ist noch nicht kalt, da reibt sich schon ein Linksradikaler die Hände, weil alle Welt ihn für den aussichtsreichsten Nachfolger hält. Der Kerl träumt allen Ernstes von einem Phönix Russland, der aus der Asche der Sowjetunion wieder zur Supermacht aufsteigt. Mir…«
    »Das ist jetzt alles nicht so wichtig, Percey«, unterbrach Yeremi unvermittelt den Arzt. Schlagartig war ihr wieder eingefallen, weshalb sie sich überhaupt zu solcher Eile hatte hinreißen lassen.
    Lytton missdeutete ihre plötzliche Aufgelöstheit. »Machen Sie sich keine Sorgen um die Wunde. Vermutlich bleibt nicht mal eine Narbe zurück. Ihr lustiges T-Shirt allerdings…«
    »Hören Sie, mein Schädel hat schon vor dem Sturz gebrummt, und mir war übel, sämtliche Glieder tun mir weh, Fieber scheine ich auch zu haben.«
    Die Stirn des Arztes furchte sich, weil seine Patientin sich aufführte, als habe sie die Cholera. Und dann begriff er endlich, was ihr durch den Kopf ging, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Das Silberne Volk besitzt vermutlich keinerlei Abwehrkräfte gegen Ihre Infektion, Yeremi. Die Krankheit könnte sie alle umbringen.«
    Yeremi sah verzweifelt aus. »Stellen Sie mich unter Quarantäne. Jagen Sie mir Nadeln in den Körper. Tun Sie irgendetwas, Percey!«
    Hoogevens Bedauern hielt sich in Grenzen. Ja, Yeremi konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, ihm mit ihrer Erkrankung sogar einen Gefallen getan zu haben. Er ließ sofort ein Zelt am Rande des Armeecamps räumen. Innerhalb von Minuten war sie isoliert. Wie eine

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