Der silberne Sinn
Wartenden den Weg zum Pavillon hinauf. Er war leer, abgesehen von einem einzelnen Mann, der schnell auf den Truck zulief.
»Stanley Gieg kommt zum Winken«, sagte Jerrys Mutter auf Spanisch.
Jemand wendete den Kopf, wunderte sich vermutlich über die ihm unverständlichen Worte. Jerry ignorierte die Bewegung am Rand ihres Gesichtskreises und hielt den Blick starr auf den höchstens achtzehnjährigen Blondschopf gerichtet, der da heranstapfte.
Gieg ging direkt auf das Führerhaus des Fahrzeugs zu. Dabei bewegte er sich seltsam steif. Er blieb neben der Fahrerkabine stehen und sprach leise mit Big Ed, der mit seiner gewaltigen Körperfülle den Raum hinter dem Steuer ausfüllte. Die beiden wechselten nur wenige Worte, dann stieß Big Ed die Wagentür auf und wälzte sich ins Freie. Gieg stieg ein. Der Motor sprang an.
»Halt!«, schrie Jackie Tailor. Sie hielt sich an einer Strebe des Verdecks fest, das über die Ladefläche gespannt war, um den Regen abzuhalten, und neigte sich weit zur Seite hinaus. »Ich sagte, halt! Wir erwarten noch drei Passagiere.«
Gieg beugte sich aus dem Fenster und rief nach hinten: »Ruhig Blut, Lady! Bringe den Truck nur schon mal auf die Straße. Der Regen weicht alles auf hier. Sie wollen doch nicht stecken bleiben, oder?«
Miss Tailor schob die Unterlippe vor und blies sich das Wasser von der tropfenden Nasenspitze. Dann suchte sie wieder Schutz unter der Plane.
Jerry, ihre Mutter und mindestens ein Dutzend weiterer Siedler winkten den Angehörigen und Freunden zu, die auf dem Lastwagen saßen. Das schwere Fahrzeug fuhr ein Stück die Piste hinab bis zu einer etwas breiteren Stelle, die sich zum Wenden besser zu eignen schien. Bei dem Manöver geschah genau das, was Gieg angeblich hatte vermeiden wollen: Der Truck versank in einem Schlammloch. Die Räder drehten sich vor und zurück, wirbelten braunen Matsch auf, aber es half alles nichts. Der Wagen rührte sich nicht von der Stelle.
»Komm mit, Mama!«, sagte Jerry am Arm ihrer Mutter. Ein solches Spektakel bekam sie nicht alle Tage zu sehen.
Außer den beiden liefen noch andere die knapp einhundert Meter zu dem Schlammloch. Als Mutter und Tochter es erreichten, lagen sich Stanley Gieg und Jackie Tailor in den Haaren.
»Die Leute meinen, das war Absicht«, warf die junge Juristin dem Fahrer vor.
Giegs glasige Augen schienen durch sie hindurchzusehen, als er seelenruhig antwortete: »Kein Sorge. Das bekommen wir schon wieder hin.«
Dale Sturges lehnte sich hinten aus dem Wagen. »Ich sage Ihnen, die hecken irgendwas aus, Miss. Sie wollen Zeit schinden. Wir sollten so schnell wie möglich hier verschwinden.«
Gieg murmelte: »Ich hole Hilfe«, und verschwand.
Jerry blickte aus großen Augen in die besorgten Gesichter der »Verräter« unter dem Verdeck. Da hockten Bekannte, sogar Freunde. Verräter sein ist wohl nicht unbedingt schlimm, dachte sie.
Nach kurzer Zeit drang ein lautes Rattern an ihr Ohr. Ein Bulldozer näherte sich.
Mithilfe des Kettenfahrzeuges war der Kipper bald wieder flott. Er stand nun sogar richtig herum auf der Straße. Gerade wollte Gieg den ersten Gang einlegen, als aus Richtung des Pavillons laute Schreie herüberwehten. Jerry klammerte sich an die Hand der Mutter, denn sie fühlte die Panik wie eine Nebelwolke auf sich zurollen. Leute liefen zwischen den Bäumen hindurch, als wären sie auf der Flucht davor. Was war geschehen?
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich ihre Mutter.
»Ich habe Muffensausen.«
»Du…?« Der Motor des Lastwagens brüllte auf, und das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung. Jerrys Mutter vergaß ihre Frage und rief stattdessen: »Komm schnell, vielleicht braucht jemand Hilfe!«
Jerry wurde emporgehoben und im Laufschritt unsanft neben dem Truck hergetragen. Viel lieber wäre sie nach Hause gerannt und hätte sich hinter geschlossenen Türen verrammelt – die Emotionen, die wie eine Sturzflut durch die Siedlung rasten, machten ihr Angst. Ihre Mutter war da ganz anders, sie lebte in dem Glauben, die weltweit einzige Krankenschwester zu sein. Jerry kannte sie nur so und nicht anders, als eine Art Supergirl, das jeden retten musste, dessen Gesundheit gefährdet war.
Die beiden hatten den Einsteigeplatz noch nicht ganz erreicht, als ein Pulk von Menschen auf die Schlammpiste strömte. Ganz vorn lief ein sichtlich benommener Congressman, geschoben vom Anwalt Alan Compte. Dessen Kollege Charles Garry und der Botschaftsmitarbeiter Richard Dwyer folgten dicht
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