Der Skandal (German Edition)
Motor ab.
»So, Andersson, jetzt können Sie Ihren Bruder rächen – und ich meinen Sohn!«
Sie nimmt ihre Waffe und steigt aus.
»Captain! Warten Sie! Captain!«, hört sie Andersson hinter sich herrufen. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist …«
»Nein! Können Sie nicht! Ihr Sohn hat überlebt!« Die Worte zerreißen ihr wieder das Herz.
»… aber wir dürfen jetzt nicht überstürzt handeln, lassen Sie uns erst einen Haftbefehl … Captain …!«
Muller dreht sich zu Andersson um. Sie hat sie mitgenommen, weil sie geglaubt hat, Andersson würde sie unterstützen. Weil sie etwas Ähnliches erlebt hat. Dabei braucht sie keine Unterstützung mehr. Noch nie zuvor in ihrem Leben ist sie sich einer Sache so sicher gewesen wie jetzt.
Sie ist jetzt ganz ruhig, ihre Hand mit der Waffe zittert nicht mehr.
»Mich interessieren keine Haftbefehle mehr, Andersson.« Sie zielt und drückt ab.
Ein brüllender Schmerz schießt durch Christina hindurch, sie geht getroffen in die Knie und sackt in den Schnee.
»Nein, Captain, nicht!«
Sie will sich aufrichten, hinter Muller herrennen, sie aufhalten, verhindern, dass sie etwas Schreckliches tut … Aber sie schafft es nicht. Sie robbt durch den verdammten Schnee bis zu den Stufen, ihr Bein ein einziger höllischer Schmerz. Ihre Hose saugt sich voll mit Blut, sie presst die Hand auf die Wunde und kämpft gegen den Schmerz an, der ihr die Luft nimmt. Sie hat die erste Treppenstufe hinauf zur Tür geschafft, da wird sie von einem Strudel aus tausend stechenden Schmerzen erfasst und versinkt in der Dunkelheit.
Waren das Schüsse? Christina stößt wieder hervor aus der Dunkelheit. Nur wenige Sekunden kann sie ohnmächtig gewesen sein. Sie zieht sich hoch, ihr rechtes Bein spürt sie nicht mehr, das viele Blut hat einen dunklen Fleck auf dem Schnee hinterlassen. Sie robbt weiter, gleich hat sie es geschafft. Die Tür steht offen, und sie hinkt hinein in den gelben Lichtspalt.
Minutenlang, so kommt es ihr vor, betrachtet Christina das Szenario. Gouverneur Ochs liegt vor dem Kamin auf dem Rücken, Augen und Mund aufgerissen, die Beine verdreht, die Arme weit von sich gestreckt. Sein Pullover hat sich dunkel verfärbt.
Ein anderer Körper hängt über einer Sessellehne, Blut tropft auf den hellen Holzboden und bildet eine tiefrote Lache, daneben liegen die Scherben eines zerbrochenes Glases.
Irgendwann hört Christina ein Klicken. Ihr Blick wandert von den Toten nach links. Halb im Schatten verborgen steht Muller, noch immer die Waffe in der Hand. Christina reißt ihre Pistole hoch.
»Captain, lassen Sie die Waffe fallen!«, brüllt sie. »Jetzt!«
Über Mullers Gesicht zieht ein müdes, zynisches Lächeln, dann schiebt sie sich den Lauf ihrer Pistole in den Mund. Christinas »Nein!« geht in der Explosion des Schusses unter.
Christina humpelt hinaus in die Nacht, der Hall dröhnt ihr in den Ohren. »Nein!«, schreit sie immer wieder, als könnte sie dem gerade Erlebten dadurch entkommen. Sie stolpert, sie fällt in den Schnee, die Kälte brennt ihr auf dem Gesicht, ihre Hände krallen sich in den Schnee, sie will sich irgendwo festhalten, doch da ist nichts.
Irgendwann hört sie ihren Namen, und als sie die Augen aufschlägt, sieht sie in Aarons Gesicht. Und es ist er, der sie hochhebt, an sich zieht und festhält.
»Wie kommst du denn hierher?«, bringt sie mühsam heraus.
»Ich hab den Notruf gehört, Nachbarn haben eine Schießerei gemeldet …«
Hinter ihm rotieren die roten und blauen Lichter des Notarztwagens. Da bricht etwas in ihr zusammen, und sie fängt an zu weinen, zuerst leise, dann immer lauter, und es kommt ihr vor, als würde sie die nicht vergossenen Tränen der letzten Jahre weinen –
Als Harpole so dasteht, oben auf dem Kran, und seinen Blick über den Zaun des Minengeländes hinweg über die im Morgendunst liegende Schneelandschaft schweifen lässt, über das im Wind sich wiegende Schilf und die weiß glitzernde Fläche des Sees bis hin zu den sanften Erhebungen am Horizont, den Apostel Islands im Lake Superior, eröffnet sich ihm der Sinn seines Daseins. Unter ihm liegt die Mine mit der aufgerissenen Erde, den stählernen Rohren, den Drills und Baggern und mit dem giftigen See im Untergrund – alles Menschenwerk, ohne Achtung vor der Schönheit und Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung.
Und im Untergrund kocht der giftige Feuerpfuhl. Auf seinen Knopfdruck hin werden die Sprengladungen detonieren, Wälle werden brechen, und
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