Der Skandal (German Edition)
die Sintflut wird sich an die Oberfläche kämpfen, sie wird sich über die Stadt ergießen, das Böse mit sich reißen und in den Lake Superior spülen.
So hat es DIE STIMME angekündigt. Harpole sieht auf die Uhr und klettert hinunter. Er ist noch nicht ganz unten angelangt, da hört er, wie jemand seinen Namen ruft.
Es ist Tyler, er steht am Fuß des Krans.
»Moment, ich bin gleich unten!«, ruft Harpole und steigt die letzten drei Meter hinunter.
»Genießen Sie die Aussicht von da oben?«, fragt Tyler grinsend. Sein Gesicht ist weiß und rot von der Kälte, seine dicke Jacke und die dicke Hose lassen ihn noch kräftiger wirken, als er ohnehin schon ist. Warum ist der Teufel nicht in Tyler geschlüpft, denkt Harpole auf einmal und fragt: »Was ist los, Tyler?«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Keith steckt? Ich muss ihn wegen der Einweihungsgeschichte fragen …«
»Keith hat sich krankgemeldet und ist nach Hause gefahren.« Harpole lächelt Tyler ins Gesicht, und es fällt ihm noch nicht einmal schwer, es kommt wie von selbst. Und warum? Weil es richtig ist. Weil er einen Auftrag bekommen hat …
»Was hat er denn?«
»Nierensteine«, sagt Harpole, ohne nachzudenken. »Machen wohl ziemliche Schmerzen. Worum geht’s, Tyler?«
»Um den Ablauf. Frenette hält die Rede … und …«
Harpole unterbricht ihn: »Und auf mein Kommando wird die Sprengladung für den zweiten Einstiegsschacht gezündet.«
»Okay, ich war mir nicht sicher, ob noch jemand eine Rede hält.«
»Nein.« Harpole sieht zum Himmel hinauf, er ist blau und so unglaublich weit. »Sonst hält niemand mehr eine Rede.«
Tyler nickt. »Ist alles okay bei Ihnen?«
»Ja, alles okay.« Harpole lächelt und klopft Tyler auf die Schulter.
»Übrigens, Ihre Freundin wartet.« Tyler zeigt zum Bürocontainer.
»Katie?«
»Hey, haben Sie noch eine?« Tyler grinst auf seine anzügliche Art.
Beunruhigt macht Harpole sich auf den Weg zu dem grauen Container. Er hat ihr doch gesagt, sie soll freinehmen und für ein paar Tage wegfahren, zu ihrer Freundin Loreen. Es macht ihn wütend, dass sie seinen Rat nicht befolgt hat.
Sie steht auf den Stufen. Durchgefroren, mit roter Nasenspitze, die Arme um den Körper geschlungen, als könnte sie sich dadurch warm halten.
»Katie, was machst du hier?«, fängt er an, noch bevor er den Container erreicht hat. »Du weißt doch, dass ich keine Zeit habe, weil heute …«
Ihre blauen Augen tränen, aber das kann auch von der Kälte kommen. Er sieht zu Boden.
»Du hast mir auf die Mobilbox gesprochen, weil du gewusst hast, dass ich nicht drangehen kann, weil ich Dienst habe. Du bist seit zwei Tagen nicht bei mir gewesen. Und meine Anrufe hast du auch nicht beantwortet. Was ist los mit dir?«
»Katie … ich …« Er hat nach einer Ausrede gesucht, aber es ist ihm keine eingefallen.
»Ich weiß, dass du keine Zeit hast, also, ich wollte dir das hier geben«, sagt sie hastig, als hätte sie Angst, dass er sie gleich wieder wegschickt.
Sie hat die roten Strickhandschuhe nicht ausgezogen, und er denkt in diesem Augenblick an Kinder mit ihren Fäustlingen, an Rodelberge, Schlitten und Schneeballschlachten … Er hört Kinderlachen, aber da blitzt auf einmal das Bild von Keith auf, wie er in seinem Blut im Schuppen liegt, den Schädel gespalten. Ein Abgrund tut sich vor ihm auf, er taumelt …
»Hal?« Katie ist die Stufen heruntergekommen, packt ihn am Handgelenk und zieht ihn zurück von diesem Schlund, in den er zu stürzen droht. »Hal? Bist du in Ordnung?«
Als er jetzt in Katies Augen blickt, glaubt er etwas Hoffnungsvolles darin zu erkennen – oder ist es Verzweiflung?
»Ja«, beeilt er sich zu sagen und nimmt den Brief, den Katie ihm hinhält.
Langsam, beinahe widerstrebend faltet er ihn auseinander. Zuerst überfliegt er das Schreiben mit der eiligen, nachlässigen Handschrift nur. Erst beim zweiten Mal begreift er den Inhalt.
»Woher hast du den?«
»Von seiner Schwester. Nachdem du mir das mit Ike erzählt hast, hab ich Nachforschungen angestellt.«
Harpole blickt wieder auf den Brief in seiner Hand. Und er liest ihn noch einmal.
Liebe Katie,
Ihr Brief hat mich tief berührt. Es muss sehr schlimm sein für einen Menschen, wenn er sich für den Tod eines anderen verantwortlich fühlt. Sie haben recht, es wurde kein Abschiedsbrief meines Bruders gefunden – und man ging daher von einem Unfall aus. Erst nach einem halben Jahr erhielt ich von einem Arzt aus Houston eine Rechnung für mehrere
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